HomeOnline-AusgabenBuG196 - Ein Bild gegen den Krieg - Der Kindermord von Bethlehem von Peter Paul Rubens - Christoph Ranzinger

Ein Bild gegen den Krieg  
Ausgabe: 196/2023

 

Ein Bild gegen den Krieg

Der Kindermord von Bethlehem von Peter Paul Rubens

 

Christoph Ranzinger

 

Dass Werke der klassischen Malerei ungemein aktuell sein können, zeigt dieser Beitrag zu Rubens´ »Kindermord von Bethlehem«. Unser Autor hat über 20 Jahre lang mit seinen Berufsschülerinnen und Berufsschülern mit diesem Bild gearbeitet.

Viele Ideen entstanden so im Zusammenspiel von Beobachtungen der Klassen und der gemeinsamen Interpretation.
So ist auch der Aufbau dieser Nummer gedacht: Die Begegnung mit dem Bild steht am Anfang, erst danach folgen Informationen und Interpretationen. Die gebeutelte Gegenwart mit Krieg, Klimakrise
und weltweit aufstrebenden totalitären Strömungen machen gerade jetzt dieses Meisterwerk unheimlich spannend.

Viel Freude am Entdecken!

Die Redaktion

Mitten im 30-jährigen Krieg zieht sich Peter Paul Rubens auf sein Landgut Het Steen nord-östlich von Brüssel zurück und setzt sich malend mit dem brutalen Krieg seiner Zeit auseinander. Rubens hatte davor zehn Jahre lang auf Bitten mehrerer Herrscher versucht, zwischen den kriegführenden Parteien zu vermitteln. Er war bestens vernetzt mit den Adelshäusern Europas. Alle wollten seine Kunstwerke. Als Maler war er äußerst erfolgreich, weniger jedoch bei seinen diplomatischen Bemühungen.
Viele seiner Werke beschäftigen sich mit Krieg und Frieden. Das wohl bekannteste ist das Bild »Die Folgen des Krieges« (206x345cm, Florenz, Palazzo Pitti), das 1638 entstand, kurz bevor er durch die Gicht am Malen gehindert wurde und 1640 im Alter von 63 Jahren verstarb.
Weniger beachtet blieb hingegen der etwa zeitgleich entstandene fast ebenso große »Kindermord von Bethlehem« (198x302cm - Alte Pinakothek, München).
Anders als bei den »Folgen des Krieges« setzt sich beim »Kindermord« Rubens nicht so sehr mit den Folgen, sondern mehr mit den anthropologischen Ursachen des Krieges auseinander. Damit wirft er Fragen auf:
Wie kann es sein, dass Männer dazu fähig sind, wehrlose, unschuldige Kinder zu töten?«
Aber auch das Theodizee-Problem:
Wieso lässt Gott das zu? Kann man an so einen Gott noch glauben?
Beide Fragestellungen zeigen, dass Peter Paul Rubens nicht nur ein begnadeter Malerfürst und geschickter Diplomat, sondern auch als Gelehrter seiner Zeit weit voraus war. Er setzte sich intensiv mit den Schrecken des 30-jährigen Krieges auseinander, rang deshalb offenbar auch mit seinem Glauben. Das Ende des Krieges 1648 hat er aber nicht mehr erlebt.
Seine zeitlose Kritik am Krieg und an der Willfährigkeit der Menschen und sein sich dadurch wandelndes Gottesbild wird auf den folgenden Seiten zu zeigen sein.

Ein Bild für seine Zeit – ein Bild für unsere Zeit

Beim ersten Blick auf die Kleidung und die Rüstungen zeigt sich: Rubens hat gar nicht versucht, die Geschehnisse in Bethlehem wahrheitsgemäß darzustellen. Er malt die Kleidung seiner Zeit. Die Rüstungen erinnern eher an Soldaten des 30-jährigen Krieges als an die Soldaten der Zeit Jesu. Er will keine Illustration der damaligen Geschehnisse wiedergeben, er malt seine Zeit, den großen Krieg, den er vergeblich zu beenden versucht.

Uns fällt das heute nicht mehr so auf: Rüstungen und Kleidung aus lang vergangenen Zeiten. Würde Rubens sein Bild heute malen, wären die Soldaten in moderne Uniformen gekleidet: vielleicht als SS-Schergen, als Soldaten an der innerdeutschen Grenze, als GIs oder als Wagner-Söldner des russischen Krieges in der Ukraine.

Video: Führung in der Alten Pinakothek (Ausschnitt 24 Minuten)

Unterrichtsgang im Rahmen des Religionsunterrichts an der Berufsschule für Informationstechnik, München.

Führung durch den Autor

Den ersten Teil der Führung finden Sie in der Begegnung und Gespräch Nr. 188 (Opferung Isaaks - Rembrandt)


Die Frauen

Wenn wir zunächst die Frauen auf dem Bild anschauen. Wir sehen offensichtlich reiche gut gekleidete Damen in Gold und Seide gewandet. Sie haben sorgfältig zurechtgemachte Frisuren, tragen wertvollen Schmuck. Andere sind in bürgerlichen Kleidern, farbig aber schlichter. Dann sind da noch die Frauen in farblosen, einfachsten Gewändern. Offenbar aus der Unterschicht. Ihre Haut ist gebräunt und gegerbt von der Sonne  bei der Arbeit auf den Feldern. Die Gesichter: wutverzerrt und entschlossen, fast hässlich!
Rubens malt also die Frauen aus allen Schichten. Die schwarz gekleidete Mutter in der Mitte, die ihre Arme mit der blutgetränkten Windel gen Himmel reckt (sie erinnert an die Figur der Europa auf dem Bild »Die Folgen des Krieges«) ist nicht nur aus der reichen Oberschicht. Ihre Kleidung deutet darauf hin, dass sie königlich ist, erkennbar an dem purpurnen Untergewand mit Hermelinbesatz. Hermelin war ausschließlich königlichen Herrschern vorbehalten.
Alle gesellschaftlichen Schichten sind betroffen, alle leiden unsäglich, alle beweinen ihre Kinder, »denn sie waren dahin« (Mt 2,18).
Und sie wehren sich mit dem Löwenmut der Mütter: Eine greift in die offene Klinge des Dolches, eine andere beißt mit der Wut der Verzweiflung in den Unterarm eines Soldaten. Sie kratzen und zerren an den überlegenen Angreifern ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben.


Wo sind die Väter?

Die Männer auf dem Bild sind fast alle Soldaten und deren Helfer. Nur klein, zentral im Hintergrund, sieht man einen alten Mann und einen Jüngling, die sich mit Fäusten und Steinen vergeblich gegen die Übermacht der Soldateska wehren. Noch weiter hinten erkennt man ganz klein zwei weitere berittene Soldaten, die  Mütter mit ihren Babys auf dem Arm vor sich hertreiben. Auch in dieser Szene sind Männer erkennbar, die versuchen die Mütter und Kinder zu verteidigen.

Wo sind die Väter? Antwort einer Schülerin: »Die sind in einer anderen Stadt und tun dort das Gleiche«.


Die Soldaten

Neben den todesmutigen Müttern dominieren die Soldaten das Geschehen. Dabei ist eine Reihenfolge zu erkennen: Die vier auf der Treppe zum Tempel (1-4), der fünfte (5), der gerade einer Mutter das Kind entreißt. Dann der Soldat am unteren Rand (6), in dessen Klinge eine verzweifelte Mutter greift. Als nächstes geht der Blick zu dem Schergen am rechten Bildrand (7), der gerade gebissen wird. Dann der Wechsel zur linken Bildhälfte, wo zwei der Soldaten (8+9) gemeinsam ein Kind töten. Dies ist der vielleicht brutalste Moment im Bild: Das Kind schreit noch, gleichzeitig dringt der Degen durch sein Herz. Im nächsten Moment ist es tot!

Drei Fragen beim Betrachten der Soldaten:
Was ist ihre Aufgabe?
Was geschieht mit ihren Rüstungen, ihrer Kleidung?
Wie ist der Gesichtsausdruck zu deuten?

Organisation des Grauens

Die ersten vier Soldaten auf der Treppe können zusammen betrachtet werden. Offenbar ist es ihre Aufgabe, den Ablauf des Kindermordes zu garantieren.
Rechts oben an der Säule hängt auf Hebräisch der offizielle Befehl zur mörderischen Tat: Verkündet und veröffentlicht, alles nach Vorschrift. Dahinter im Halbdunkel ein grauhaariger Mann mit Doppelkinn, der höchste Verwaltungsbeamte oder gar Herodes selbst. Davor  ein nachdenklich und streng wirkender Herr, vielleicht der Oberbefehlshaber. Beide überwachen die ordnungsgemäße Durchführung der grausamen Anordnung. Ihnen werden die getöteten Kinder von Helfern zu Füßen gelegt.
Einer der vier Soldaten hält mit seiner Lanze die Frauen zurück die sich von ihren getöteten Säuglingen nicht trennen wollen. Sie sollen wenigstens beerdigt werden!
Ein anderer Soldat richtet seine Hellebarde gegen den alten Mann und den Jüngling. Beide versuchen mit Stein und Faust gegen das Gemetzel vorzugehen. Der Speer richtet sich allerdings nicht direkt in Richtung der beiden Männer. Bei genauer Betrachtung kann man aber eine Faust mit einem kurzen Messer sehen, die offenbar später übermalt wurde. Rubens hat wohl den Widerstand der Männer nachträglich noch kleiner dargestellt. Der Speer des Soldaten blieb unverändert.    
Die vier Soldaten sind vollständig mit Rüstungen bekleidet. Ihre Gesichter sind streng, aber ausdruckslos.
Dieser »ordnungsgemäße« Ablauf, das pervers normierte Vorgehen nach vorgegebenen Strukturen und Anordnungen, erinnert an die grausamen aber kaum hinterfragten Abläufe in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches. Bis wenige Stunden vor Befreiung der Lager wurden Menschen nicht nur getötet. Es wurden offizielle Totenscheine ausgestellt (»Lungenentzündung« etc.), Angehörige benachrichtigt uvm.
Bei einem der Unterrichtgänge zu dem Bild war mir eine alte Frau aufgefallen, die lange vor dem Gemälde verharrte. Sie hörte eine Zeit  lang den Ausführungen zu, stand dann auf und sagte mit Tränen in den Augen nur: »Das Bild zeigt Auschwitz, das ist Auschwitz.« und ging. Offensichtlich war Sie eine Überlebende oder Angehörige von Opfern der Shoah.

Soldat fünf

ist mitten im grausamen Geschehen: Er entreißt einer Mutter das Kind, um es umzubringen. Vermutlich hat er bereits getötet, sein Dolch ist zumindest blutig. An seinen nackten Armen fehlt die Rüstung, sein Untergewand ist nach oben gerollt.
Er schaut traurig, bekümmert. Ein kleiner weißer Punkt in seiner linken Pupille erweckt den Anschein, dass er Tränen in den Augen hat. Er macht es vermutlich nicht gerne. Vielleicht bemitleidet er Kind und Mutter – aber er macht es dennoch.

Soldat sechs

ist wie alle noch zu beschreibenden Soldaten direkt zum Töten der Kinder eingesetzt. Zusätzlich zu den Armschienen fehlt nun auch der Helm. Haben ihn die tapfer für ihre Kinder kämpfenden Frauen heruntergerissen? Sein Blick zeigt kein Bedauern: Er blickt streng, entschlossen, entschieden. Schaut er zur der Frau, die ihm ins offene Messer greift?; zum Kind, dass er gleich töten wird? Das wäre zu erwarten. Aber er blickt aus dem Bild. Er schaut den Betrachter an. Er schaut uns an.
»Ihr seid als Nächste dran!« – die Armen, die Bürgerlichen, die Reichen, selbst die Königin. Und auch wir, die wir vor dem Bild stehen. Das erklärt die Blickrichtung und den Ausdruck in seinem Gesicht.
Oder will er sagen: »Was schaut ihr so angewidert? Ihr seid auch nicht besser als ich. Ihr würdet in meiner Situation genau so handeln!« 

Soldat sieben

am rechten Rand hat bereits seine gesamte Rüstung verloren. Lediglich die Stiefel und der Dolch zeigen die Reste der Uniform. Er wird von der Mutter, die in wilder Raserei ihr Kind verteidigen will, beherzt in den Arm gebissen. Sein Gesicht zeigt neben Schmerz auch Wut auf die Frau, die ihn an der Ausübung des Befehls hindert. Es ist nicht klar, ob er es in diesem Augenblick nur auf den Säugling abgesehen hat oder ob er gleich der Frau in den Rücken stechen wird.

Der achte Soldat

– am linken Rand des Gemäldes – ist zusätzlich barfuß. Während der blutigen Tat tritt er auf das Gesäß der trauernden Mutter, die ihr totes Kind beschützend im Oval ihrer Arme hält. Ihr Gesicht hat den grünlichen Farbstich des Kinderleichnams. Sie ist noch am Leben und scheint doch schon gestorben zu sein.
Das rot-schwarze Untergewand der Rüstung des Soldaten ist heruntergerissen, der Oberkörper ist freigelegt. Seine Haare sind wild und ungepflegt, sein Bart zeigt verfilzte Zotteln und sein Blick richtet sich auf den vielleicht brutalsten Moment dieses ohnehin gewaltreichen Bildes. Konzentriert, fast lächelnd hat er sein wehrloses Opfer fest im Blick, während der kalte Stahl seines Degens gerade das Herz des kleinen Kindes durchdringt. In diesem Augenblick schreit es noch, im nächsten Moment ist es tot. Der Soldat glotzt wie im Rausch!

Soldat neun

ist direkt dabei. Er ist es, der das Kind festhält. Seine Uniform ist gänzlich verschwunden. Lediglich ein Stück Fell bedeckt seine Blöße. Sein Körperbau ist äußerst muskulös. Er hat keine Waffen. Er kämpft nur mit den Händen. Die beiden Frauen neben ihm zerren an ihm, zerkratzen seine Wange und Augenwinkel.  Er scheint einen wilden Schrei auszustoßen, seine Augen sind weit aufgerissen und rollen, ohne etwas Bestimmtes zu fixieren. Er erinnert fast an die grüne Comicfigur des »Hulk«, vielleicht an einen Werwolf, jedenfalls an ein Tier.
Er wird selbst zum Tier!

Rückentwicklung zum Tier

Die Soldatendarstellungen 5 bis 9 hat Rubens gezielt in diese Reihenfolge gebracht. Er zeigt, wie Menschen als Soldaten wieder zum Tier werden.
Alle werden die Verantwortung für ihr Tun ablehnen. Ihr Gewissen hängt im Umkleideraum der Kaserne. Alle werden sie die bekannten Ausreden bringen:
»Befehl ist Befehl!«
»Bei uns gibt es den Grundsatz von Treu und Glauben«
»Wenn ich nicht mitgemacht hätte, wäre ich selbst an die Wand gestellt worden.«
War dem ersten Soldaten, der Kinder tötet, noch das Bedauern der grausamen Tat ins Gesicht geschrieben und seine Rüstung noch fast vollständig, verrohen die weiteren Täter nach und nach. Sie verlieren ihre Kleidung bis sie fast nackt, bis sie sprichwörtlich zum Tier werden.
Nun erkennt man auch den zehnten »Soldaten«: Den Hund. Links unten krallt er sich auf ein getötetes Baby. Mit langer Schnauze und zusammengekniffenen Augen leckt er das Blut der Opfer auf. Einen abstoßenderen Hund kann man sich kaum vorstellen. Er ist der letzte »Soldat« der Reihe. Bei ihm ist die Verwandlung abgeschlossen. Er ist vollständig zum Tier geworden!
Rubens dreht damit die biblische Geschichte der Menschwerdung um: Adam und Eva waren nackt. Sie hatten noch nicht die Erkenntnis von Gut und Böse, keine Verantwortung, kein Gewissen, keine Freiheit. Erst dadurch, dass sie von der Frucht des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse gegessen haben, gehen ihnen die Augen auf. Sie werden zu Menschen. Sie sehen, dass sie nackt sind; sie ziehen sich an. (Vgl. Ausgabe  BuG 194 »Adam und Eva - Glücksfall oder Sündenfall?«)
Die Soldaten in dem Bild gehen den umgekehrten Weg. Aus angekleideten Menschen mit Verantwortung und Gewissen werden nackte, gewissenlose, fremdgesteuerte »Tiere«! Im Krieg verliert der Mensch sein Menschsein. Tiefer kann er nicht fallen!
Mit seinem Werk beklagt Rubens nicht nur die wohlstandszersetzenden, kulturzerstörenden und gesellschaftsschädigenden Folgen des Krieges. Er setzt sich mit der Verführbarkeit des Menschen auseinander, der sich in den Krieg, dieses sinnlose zerstörerische Tun, hineinziehen lässt und mit der Ablehnung seiner Eigenverantwortlichkeit Kriege erst ermöglicht.


Der Himmel wird leer

Fast unabhängig von dieser Thematik stellt Rubens mit den drei Engeln links oben eine weitere Frage in den Raum. Die Mutter in der Mitte des Bildes reckt ihre Arme mit einer blutgetränkten Windel in den Händen fragend bis anklagend gen Himmel. Ihr tränenreicher Blick richtet sich auf die Engel, die als Boten Gott repräsentieren. »Macht doch was! Warum lasst ihr das zu?«, scheint sie zu fragen.
Und die Engel geben die Antwort: Der erste reckt seinen Hals und schaut neugierig auf das Geschehen nieder. Der zweite wirkt eher nachdenklich, vielleicht mitleidig. Sie werfen Blumen herab.
Es geht um die Frage der Theodizee. Die Frage stellt besonders auch Voltaire nach dem verheerenden Erdbeben 1755 an einem Sonntag in Lissabon, an dem zehntausende Menschen starben, darunter viele Gottesdienstbesucher, die unter den Trümmern der einstürzenden Kirchen begraben wurden. »Kann man angesichts des Leides auf der Welt an einen Gott glauben? Wieso lässt Gott so etwas geschehen, wenn er doch allmächtig ist?«
Rubens stellt in seinem Bild diese Frage bereits über 100 Jahre früher. Und er bietet auch gleich eine mögliche Antwort: Gott hat uns die Freiheit gegeben, er hat uns in die Eigenverantwortlichkeit entlassen. Er hat uns als Menschen gemacht. Würde er eingreifen, wäre seine Schöpfung hinfällig; wir wären Marionetten, Zombies, Lemminge, aber keine Menschen. Es ist der entfernte Gott, der deus absconditus.
Das einzige, was Gott tun kann, ist, uns zu trösten, uns in der Trauer beizustehen: Trost durch die Blumen!
Mehr noch: Der rechte Engel scheint aus dem Himmel zu fallen. Die drei Lorbeerkränze in seiner rechten Hand entgleiten ihm. Sind es die Siegessymbole für den dreieinen Gott?
Unter den Engeln brennt ein Gebäude – eine Kirche? Das Bild des regierenden, herrschenden, alles kontrollierenden Gottes beginnt zu zerfallen. Der Himmel wird leer, der Mensch ist auf sich selbst gestellt, selbst verantwortlich, kein deus ex machina wird ihm helfen!
Rubens hat offenbar in seiner Verzweiflung angesichts des nicht enden wollenden grausamen Krieges diese aufklärerische Botschaft in sein Werk eingebaut.
Und das ist ja auch die Weihnachtsbotschaft: Gott kommt nicht als mächtiger Herrscher, sondern als wehrloses, obdachloses Baby zur Welt. Wir allein – als freie Menschen, ausgestattet mit der Ebenbildlichkeit Gottes und der Erkenntnis von Gut und Böse – sind die, die sich für eine bessere Welt, eine bessere Gesellschaft, das Kommen des Reiches Gottes einsetzen – oder eben nicht.
Ein erschreckend aktuelles Bild!


Würde man sich ein so grausames Bild in die Wohnung hängen? Wohl kaum!
Umso überraschender ist, dass dieses Bild im Paradeschlafzimmer des Fürsten im Schloss Schleißheim hing. Der in der Wandvertäfelung eingelassene Rahmen war der ursprüngliche Platz für dieses Werk. Der Fürst sah mit dem ersten Blick des Tages und beim Schlafengehen Rubens´ Mahnung vor dem Krieg.
Erst zur Eröffnung der Alten Pinakothek in München 1839 wurde Rubens‘ Bild dort hin gebracht und der Rahmen in Schleißheim mit  »Die Knaben Jesus und Johannes« von Frans Snyders ersetzt.


P.S.: Klebeaktion der »letzten Generation« an Rubens‘ Kindermord

Aktivisten der »Letzten Generation« klebten sich am 26. August 2022 am Rahmen des »Kindermord von Bethlehem« fest, um auf den Klimawandel hinzuweisen und das dringend notwendige Handeln einzufordern.

Einer der festgeklebten Aktivisten begründet die Auswahl des Bildes so:
»Ich habe mich festgeklebt, weil ich verzweifelt bin. Die Klimakatastrophe ist bereits hier. Wir sehen bereits, wie Menschen ihre Lebensgrundlagen verlieren wie in der Ahrtalflut. Auch unsere Kinder werden sterben, wenn unsere Regierung nicht jetzt angemessen reagiert!«
Die Aktivisten der »Letzten Generation« sehen sich – ähnlich wie die Mütter in Rubens‘ Gemälde – einer brutalen Bedrohung gegenüber, die sie mit allen Mitteln – wenn nötig auch selbstgefährdend und illegal – abwenden wollen.
Dass die Wahl für die Aktion der Aktivisten auf dieses Gemälde fiel, war kein Zufall.