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Die Opferung Isaaks  
Ausgabe: 188/2020

Die Opferung Isaaks

von Rembrandt theologisch entschlüsselt

                                Christoph Ranzinger

 

 

 

 

1996 war es meine Aufgabe, das Abraham-Kapitel für ein Religionsbuch zu erarbeiten. Einigermaßen ratlos stand ich vor der damals für die Hauptschule vorgesehenen Bibelstelle der Opferung Isaaks (Gen 22). Wie soll ich meinen 5.Klässlern aus einer Münchner Brennpunkthauptschule diese Geschichte nahebringen? Wie kann man elfjährigen Schülerinnen und Schülern, die mehrheitlich aus schwierigen Familienverhältnissen stammten, einen Vater wie Abraham vermitteln, der bereit war, seinen eigenen Sohn zu opfern?
Überhaupt war für mich diese Geschichte trotz Theologiestudiums eine der sperrigsten, unverständlichsten Stellen der Bibel. Was soll das für ein Gott sein, der seinen gehorsamen Knecht so brutal auf die Probe stellt? Den Sohn, den einzigen, den er liebt, der ihm vertraut, den soll er töten? Ist Gott ein folternder Sadist?
Und Abraham? Unser Vater des Glaubens? Der mit Kadavergehorsam ohne eine Nachfrage, ohne Verhandlungsversuch, ohne Zögern aufbricht, um die grausamste aller vorstellbaren Taten zu begehen? Ist er nicht der Prototyp eines fundamentalistischen Selbstmordattentäters?

 

Schon während des Studiums blieb der Professor für die Exegese des Alten Testaments eine zufriedenstellende Antwort schuldig: Man müsse die Unbegreiflichkeit Gottes gelegentlich einfach mal aushalten...
Und wie soll man das nun das den 5.Klässlern vermitteln?
Auf der Suche nach geeigneten Kunstwerken stieß ich auf Rembrandts Opferung Isaaks. Die Alte Pinakothek war damals wegen umfangreicher Renovierungsarbeiten mehrere Jahre geschlossen. So blieb nur die Suche in den Bildbänden in den diversen Bibliotheken. Und da gab es zwei Versionen des Bildes von Rembrandt: Die erste Version, die in der Eremitage in St. Petersburg hängt von 1635 und eine weitere Version von 1636, die in der Alten Pinakothek in München beheimatet ist.

Führung in der Alten Pinakothek

Unterrichtsgang im Rahmen des Religionsunterrichts an der Berufsschule für Informationstechnik, München.

Führung durch den Autor

Rembrandt, Opferung Isaaks, 1635, Eremitage, St. Petersburg
Rembrandt, Opferung Isaaks, 1636, Alte Pinakothek, München

Beide Gemälde haben zentimetergenau die gleiche Größe, bei oberflächlicher Betrachtung scheint die Münchner Version eine Kopie des ersten Bildes zu sein. Aber der Vergleich der Bilder hat es in sich: Kaum erkennbar trägt das Münchner Bild eine merkwürdige Signatur. Neben Rembrandts Namen ist sein Kommentar „verandert und overbebildert“ verewigt, also verändert und übermalt.

Signatur am unteren Rand des Münchener Bildes:
»Rembrandt verandert und overbebildert«
(digital aufbereitet)(der Ausschnitt wurde digital aufgehellt)

Anlässlich einer einmaligen Sonderausstellung 2004 in der Alten Pinakothek, wo die Petersburger Version als Leihgabe neben der Münchner Version ausgestellt war, wurden umfangreiche Untersuchungen angestellt: in den unteren Schichten konnte man erkennen, dass das Bild als exakte Kopie des ersten Werkes angelegt war: Ein Schüler Rembrandts hat wohl ursprünglich diese Kopie unter der Anleitung des Meisters hergestellt. Das war damals üblich. Der Meister hätte am Ende vielleicht ein paar verbessernde Pinselstriche beigefügt, hätte es signiert und dann wäre es als echter Rembrandt auf den Markt gekommen. Aber irgendwann bekam Rembrandt eine neue Idee. Die wurde nun umgesetzt, und so entstand ein spannendes neues Bild, das gerade im Vergleich zur ersten Version einen Einblick in Rembrandts Gedankenwelt erlaubt: Denn jede Änderung muss einen Grund gehabt haben, war eine bewusste Entscheidung Rembrandts.

Auffälligste Änderung: Der Engel ist nun nach Rembrandts Eingriff eine völlig anders interpretierte Gestalt.
Haare und Flügel sind dunkel, das Gewand ist weiß und wesentlich schlichter als die fein ausgearbeitete grüne Robe in der ersten Version. Der Engel kommt nun noch dramatischer, noch überraschender hinter Abrahams Rücken hervor. Seine Hand greift nun noch entschlossener zu, zwischen dem Daumen und der restlichen Hand wird Abrahams Arm arretiert, während der St Petersburger Engel die Hand fast sachte auf den Unterarm Abrahams legt.
Der Vergleich des Gesichtsausdrucks ist noch entscheidender. (Bei den alten Meistern ist der Gesichtsausdruck quasi die „Tonspur“ in ihren Erzählbildern!)
Der Münchener Engel blickt streng, aber doch gelassen auf Isaak, während er Abraham erklärt, dass er die Prüfung bestanden habe.

Der Gesichtsausdruck des Engels im zweiten Bild ist eher weinerlich. Er schaut bekümmert aus!

St. Petersburger Version 1635
Münchener Version 1636
St. Petersburger Version 1635
Münchener Version 1636

Dann Abraham: Die exakt gleiche Körperhaltung, die exakt gleiche Kopfhaltung, aber mit wenigen Änderungen wird der Gesichtsausdruck ein völlig anderer. Im St. Petersburger Bild wirkt Abraham überrascht, blickt aber auch mit einer gewissen Strenge des eben noch Entschlossenen zum Engel: »Gut, aber ich hätte es getan«, mag er sich denken.
Das Münchener Bild hingegen zeigt Abraham mit aufgerissenen Augen und offenem Mund, als sei er zu Tode erschrocken: »Was hätte ich da beinahe gemacht! Wie konnte ich nur ... ?«

Isaaks Gesicht ist nicht zu sehen. Man erkennt keine bedeutsame Veränderung. Nur das Tuch, auf dem er liegt, ist bei der zweiten Version ausschließlich weiß.
Aber eine weitere wesentliche Änderung ist zwar nicht so offensichtlich, aber nicht weniger bedeutsam: Das Tal, aus dem Abraham und sein Sohn gekommen sind, ist hinter dem fallenden Dolch zu erkennen. Es hat sich in der Form nicht verändert. Die Felsenkante, die Bäume, ja selbst die Wolken sind bei beiden Bildern deckungsgleich. Aber die Farbgebung ist nun eine andere: Entspricht bei der ersten Version das Licht im Tal etwa dem Licht hinter dem Engel, erscheint in der Münchner Version das Tal in nächtliches Dunkelblau gehüllt, obwohl über dem Engel auch Taglicht scheint.

 

St. Petersburger Version 1635
Münchener Version 1636

(Hier ist ein Unterschied bei den Restaurationskonzepten von Eremitage und Alter Pinakothek zu beachten. Während in St. Petersburg der vom Künstler aufgebrachte Schutzfirnis als Teil des Kunstwerkes bewahrt wurde, obwohl dieser dem Bild alterungsbedingt einen starken Gelbstich verleiht, hat man sich in München entschieden, den Firnis zu entfernen und zu erneuern, um die ursprüngliche Leuchtkraft des Bildes wieder herzustellen.)

Zur Deutung ist zunächst ein Blick in Rembrandts Biografie nötig: Rembrandt arbeitet lange bei seinem Lehrer, obwohl er diesen vermutlich schon längst an Qualität übertroffen haben dürfte. Aber ihm fehlt das Geld, um eine eigene Werkstatt zu eröffnen. Das gelingt erst, nachdem er die Tochter des Bürgermeisters 1633 geheiratet hatte.
Das St. Petersburger Bild ist also eines seiner ersten großformatigen Werke. Vermutlich eine Auftragsarbeit für einen Seitenaltar einer Klosterkirche o. ä.
Rembrandt dürfte sich also zunächst mit der Bibelstelle auseinandergesetzt und dann das beschriebene Geschehen bildlich umgesetzt haben: Der Engel des Herrn ruft ihm die erlösenden Worte zu: Tu ihm nichts zu Leide! Du hast die Prüfung bestanden... Abraham sieht ihn überrascht an, ist sich aber seines unerschütterlichen Gehorsams Gott gegenüber bewusst. Er hätte es getan!

Im zweiten Bild ändert sich die Aussage ganz fundamental: Hier erscheint der entsetzte Engel im weißen Gewand (Farbe der Unschuld). Ganz bekümmert scheint er Abraham zuzurufen: »Abraham, wie konntest du nur annehmen, dass Gott so etwas von dir verlangt? Hast du denn nichts verstanden?«

Im zweiten Bild ändert sich die Aussage ganz fundamental: Hier erscheint der entsetzte Engel im weißen Gewand (Farbe der Unschuld). Ganz bekümmert scheint er Abraham zuzurufen: »Abraham, wie konntest du nur annehmen, dass Gott so etwas von dir verlangt? Hast du denn nichts verstanden?«
Und Abraham fällt es wie Schuppen von den Augen. Er hätte im verblendeten Irrglauben fast seinen geliebten Sohn geopfert!

Und das Tal, aus dem sie ge-kommen sind, ist in Finsternis gehüllt. Aus dieser dunklen Vergangenheit ist er gekommen, als er noch dachte, dass Gott seinen Sohn als Opfer verlangt!
Aber jetzt hat er verstanden: Gott ist ein liebender Gott, der niemals so etwas von uns verlangen würde!

 

Und das Tal, aus dem sie ge-kommen sind, ist in Finsternis gehüllt. Aus dieser dunklen Vergangenheit ist er gekommen, als er noch dachte, dass Gott seinen Sohn als Opfer verlangt!
Aber jetzt hat er verstanden: Gott ist ein liebender Gott, der niemals so etwas von uns verlangen würde!

Diese eigene neue Lesart scheint Rembrandt so wichtig gewesen zu sein, dass er sein Bild inhaltlich verändern und übermalen musste.

 

Was fasziniert: Die Interpretation Rembrandts entspricht neueren exegetischen Versuchen, die sperrige Erzählung von der Opferung Isaaks doch ein wenig aufzulösen.

Bemerkenswert ist, dass Abraham anfangs von „Gott“ (EL) aufgefordert wird, seinen Sohn zu opfern, dann aber bei Eingreifen des Engels vom „Herrn“ (JAHWE) die Rede ist. Aufgrund dieser unterschiedlichen Gottesbezeichnungen wurde noch in den 1980er Jahren von Exegeten versucht, Gen 22 in ineinandergewobene Textfragmente der elohistischen und jahwistischen Überlieferungen aufzuschlüssen – ohne zufriedenstellendes Ergebnis. Erst zu Beginn der 1990er Jahre wurde die kunstvolle Komposition des Kerntextes stärker berücksichtigt: Lässt man den ersten Satz (»Nach diesen Ereignissen stellte Gott Abraham auf die Probe«) als redaktionellen Verbindungssatz weg und endet man mit des Engels Aufforderung, Isaak nichts zu Leide zu tun, ergibt sich ein wunderbar aufgebauter, in sich schlüssiger Text. Das aber heißt dann auch: Die Verwendung von EL und dann der Wechsel zu JAHWE ist vom ursprünglichen Autor des Textes beabsichtigt.
Jetzt bekommt die Geschichte ihren ursprünglichen Sinn zurück: Es ist die Offenbarung des liebenden Gottes, der, der er ist, der, der mit uns ist, JAHWE!
Abraham hatte bisher an den alten Berg- und Wettergott EL geglaubt, der zornig ist ob seines Versagens, der besänftigt werden muss mit Opfern, ja vielleicht sogar mit Menschenopfern. Das war sein bisheriges Gottesbild.
Aber nun hat er verstanden: Gott will unsere Opfer nicht! Er ist ein liebender, ein versöhnender, ein vergebender Gott. Und so kann die Erzählung von der Fast-Opferung Isaaks als Kultäthiologie gelesen werden; als eine Geschichte, die begründet, warum wir nicht mehr Menschenopfer bringen, wie es die Völker um das alte Israel herum zu tun pflegten.

Wir können uns das vielleicht so vorstellen: Nach einigen Jahren Dürre wird es immer schwieriger für eine semitische Sippe, die in den Wüstenrandgebieten umherzieht und sich nun durch die Trockenheit in ihrer Existenz bedroht sieht. So kommen die jüngeren Familienväter der Sippe zum Ältesten, der zugleich ihr spiritueller Führer ist und fragen: »Vielleicht schickt uns Gott diese Dürre als Strafe dafür, dass wir nicht Menschenopfer bringen, wie es unsere Nachbarvölker tun. Sollten wir nicht auch einen Menschen opfern, um Gott zu besänftigen?« Und der Älteste antwortet ihnen »Damals, als Abraham dachte, er müsse seinen Sohn opfern...« und nun erzählt er die Geschichte von Abraham.
Jahrhunderte später – Israel ist längst zu einem mächtigen Volk mit der Hauptstadt Jerusalem geworden – sitzen die Schriftgelehrten zusammen und versuchen die unterschiedlichen Traditionen und Erzählungen der früheren Stämme zusammenzubringen. Der Pentateuch, (fünf Bücher Mose) entsteht.
Aber die Schriftgelehrten von damals kennen die Situation und die ursprüngliche Fragestellung nicht mehr. Die Frage nach Menschenopfern stellt sich ja schon lange nicht mehr. Auch die Menschenopferpraxis der umgebenden Völker ist längst verschwunden und vergessen. Auf der Suche nach einer tragfähigen Deutung führen sie die neue Lesart ein: „Nach diesen Ereignissen stellt Gott Abraham auf die Probe...“

Ja, so sind wir Menschen. Wir erliegen immer wieder der Versuchung, uns Gott nach unserem Bilde zu machen. Gott als jemand, der besänftigt werden will (wie wir), jemand mit dem man per Gegenleistung/Opfer einen Freispruch aushandeln kann. Schon Abraham hatte dagegen den bedingungslos liebenden Gott erfahren. Die Erzählung von der Opferung Isaaks ist diese wichtige Offenbarung.
Aber ca. tausend Jahre später hatten die Juden das wieder vergessen. Und unser Glaube erzählt von Jesus, der von seinem Vater hingegeben wird – als letztes und ultimatives Opfer, das uns das Geschenk der absoluten Liebe Gottes versichert. Gott will keine Opfer – er muss nicht besänftigt werden!
Und Heute: Wir feiern die Eucharistie wie die frühen Christen, so wie es Justin der Märtyrer beschrieben hat – mit einer Ausnahme: Wurden bei Justins Schilderung durch den Diakon nach dem Gottesdienst milde Gaben für die Witwen und Waisen eingesammelt, so geschieht das heute während der Gabenbereitung. Und in manchen Gemeinden werden diese mit Geld gefüllten Opfer(!)-Körbchen vor den Altar gestellt. Das könnte leicht missverstanden werden!

Zurück zu Rembrandt:
Er bildet ja in der Münchner Version der Opferung Isaaks diese moderne Deutung der Exegese ab. Wie kommt er im Jahr 1636 auf eine Deutung, die so von der Theologie erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts formuliert worden ist?
In der Regel kommen die Schülerinnen und Schüler selbst darauf: Rembrandt wird im Dezember 1635 zum ersten Mal Vater. Aber bereits im Februar 1636 muss er seinen Erstgeborenen beerdigen. Sein Sohn stirbt schon bald nach der Geburt. Und genau zu dieser Zeit entscheidet Rembrandt, die als Kopie begonnene zweite Version seiner Opferung zu verändern und zu übermalen. Es gibt zwar keine schriftlichen Nachweise, aber der Zusammenhang ist naheliegend: Rembrandt verarbeitet seine Trauer über den Verlust, in dem er das Bild verändert. Er hadert vermutlich mit seinem Gott, der ihm seinen Erstgeborenen so früh genommen hat und malt sich diesen Glaubenszweifel von der Seele. Mit dem Gott, der liebt und sich nicht seinen Erstgeborenen als Opfer nimmt, mit dem kann er leben und der kann ihn trösten.

Mich erinnert das an das wohl berühmteste und anrührendste Lied Eric Claptons „Tears in Heaven“ mit dem er versucht hat, den Tod seines 4jährigen Sohnes Connor 1991 zu verarbeiten:

»...Time can bring you down,
time can bend your knees,
time can break your heart,
have you begging please,
begging please.
Beyond the door
there‘s peace I‘m sure
And I know
there‘ll be no more
tears in heaven«

Welche der beiden Versionen Rembrandts ist bedeutender?
Die Kunsthistoriker werden vermutlich das Bild in St. Petersburg bevorzugen: Alles aus der Hand des Meisters, sicher detailreicher gemalt.

Aber das Bild in München ist Rembrandts persönliche, innovative, tröstende und theologisch kluge Arbeit! Was für ein Privileg, ein so meisterliches Bild voll theologischer Tiefe und echter Emotion hier in München im Original betrachten zu können!

Literatur:

Marcus Dekiert Rembrandt. Die Opferung Isaaks, München 2004.
Georg Baudler, Die Befreiung von einem Gott der Gewalt, München 1999.
Klaus von Stosch, Abrahams Opfer. Eine Annäherung aus dem Gespräch von Judentum, Christentum und Islam, in: Herder Korrespondenz 4/2013

Fotos:

C. Ranzinger, D. Hammon (S.8)