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Es muss sich doch endlich was ändern!  
Ausgabe: 203/2025

Es muss sich doch endlichwas ändern!

Wandel durch Widerstand

Hans Jürgen Luibl

Es muss sich doch endlich was ändern!

Dieser Ruf wird lauter in der letzten Zeit. Er beginnt, wie das Jahr beginnt: Es muss sich was ändern – und dann geht man mit guten Vorsätzen ins Neue Jahr: weniger Fleisch und mehr Bewegung, weniger verbrauchen und dafür mehr Zeit für Wichtigeres. So könnte sich das Leben ändern. Könnte. Wie das bunte Feuerwerk, das sowieso schädlich ist, verglühen die guten Vorsätze sehr bald. Vielleicht gibt es dann noch einmal ein Änderungs-Revival für die Frommen in der Fastenzeit, aber auch diese Aktion Sinnesänderung endet meist schon vor Ostern. Weil zwar alles anders werden soll, aber sich bitte nichts verändern darf.
Es muss sich doch endlich was ändern! Das Änderungsnarrativ hat an Dynamik gewonnen, etwa in der politischer Rhetorik. Schon in den 80-er Jahren forderte Bundeskanzler Helmut Kohl die »geistig-moralische Wende«, die allerdings in die Sackgassen der Musealisierung Deutschlands führte. 1997 dann der Weckruf zur Veränderung durch den Bundespräsidenten Roman Herzog: »Durch Deutschland muss ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen.« Und Bundeskanzler Olaf Scholz versuchte es dann noch mit einem »Doppel-Wumms«, der allerdings zum schlichten »Blubb« wurde. Danach wurde die Zeitenwende ausgerufen, deren abgründiger Charme darin besteht, dass im Dunkeln bleibt, was kommen soll. Was politisch sich vollzieht, zeigt sich auch gesellschaftlich wie wirtschaftlich. Dort heißen die Zauberworte für eine andere Welt: Transformation und Changemanagement, wobei auch diese sich ändern: Wo man früher von der Herausforderung sprach, findet sich heute das Stichwort der Überforderung der Systeme – Bildung und Gesundheit, Autobahnen und Deutsche Bahn.


In die Jahre gekommene Systeme scheinen unter Veränderungsdruck zu ermüden, trotz und gerade wegen des Dauerweckrufs zur Richtungsänderung, die nicht kommt. Und unter dem Druck von Corona, Krieg und Klimawandel drohen sie akut zu kollabieren. Damit kommt ein neuer Klang in den öffentlichen Diskurs: der Sirenengesang des Untergangs. Verfolgt man die Berichte des Club of Rome oder die Weltrisikoberichte, steigen die Risiken weltweit und potenzieren sich gegenseitig. Auf drei Ebenen, die miteinander korrelieren, ist dies erkennbar: Zum einen steigen die objektiven Risiken, vom Klimawandel bis hin zu Kriegen. Zum anderen sinken die technisch-wirtschaftlichen Fähigkeiten, Risiken zu minimieren. Und schließlich sinken die kommunikativen Fähigkeiten, in demokratischen Prozessen gemeinsame Ziele zu formulieren. Die Weltuntergangsuhr tickt.
Das ist die Stunde der Extremisten mit Veränderungswut. Amerikanische Trumpisten träumen von einem neuen Groß-Amerika. Die deutsche Alternative sucht, mangels zukunftsoffener Konzepte, Sieg und Heil in der Vergangenheit, etwa in der Welt des Völkisch-Nationalen, in der alles, was nicht hineinpasst, ausgeschlossen wird: Migranten zurückweisen, notfalls auf sie schießen, auch auf Mütter und Kinder (so eine AfD-Funktionärin) und Klimawandel einfach ausblenden, den Krieg Russlands gegen die Ukraine und den Westen herunterspielen und dafür mit einem Bürgerkrieg in Deutschland spielen, wie es der AfD-Funktionär Bernd Höcke tut. Und der Welthandelskrieg hat schon begonnen, parallel zu den Kriegen weltweit. Kurz: Die Alternative für Deutschland, die das Bundesamt für Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistische Bestrebung einstuft, besteht darin, das Recht außer Kraft zu setzen, Gesellschaft zu desozialisieren, Probleme auszublenden.
Interessant ist, dass auf der Suche nach Änderungspotential die wirklichen Veränderungen der letzten 80 Jahre dagegen, die Geschichte von Widerstand und Neubeginn kaum eine Rolle spielen: 1945, als Deutschland auf den Trümmern des Krieges sein Wirtschaftswunder zelebrierte (darunter aber der braune Gedankenstrom weiterfloss); 1968, als die Protestbewegung Deutschland aus der Erstarrung weckte (um dann in einer neuen Wohlstands- und Wohlfühlgesellschaft sich wiederzufinden, deren Preis heute noch zu bezahlen ist); 1989, in der Wende, in der Europa neu entdeckt wurde (und gleichzeitig hinter seinen Möglichkeiten zurückblieb). Die Geschichte der Veränderungen ist widerständiger als es schlichte Veränderungslust wahrhaben will. Aber es ist der Widerstand, der weiterführt. Auch die Neuzeit, die gerade zu Ende zu gehen scheint, ist geboren aus dem Geist der Veränderung, des Widerstands in allen Aufbrüchen.


Neuland mit Abgründen

Vor 500 Jahren, da ist die Welt eine andere geworden. Das Mittelalter verging, eine neue Zeit, die Neuzeit kam, ohne zu wissen, was da sich vollzog. Es war eine Zeit des Umbruchs. Die neue Welt begann zunächst mit neuen Entdeckungen, die die Grenzen der alten Ordnungen überschritten.

  • Ab 1450 revolutionierte Johannes Gutenberg die Kommunikation: Ein Buch wird nicht mehr von Hand abgeschrieben, sondern mit einzeln gesetzten Buchstaben gedruckt und damit unendlich wiederholbar. Flugblätter tragen Ideen in den letzten Winkel. Auch die Bibel ist nicht mehr Eigentum einiger Weniger in den Machtzentren der Kirche, sondern wird verbreitet, wird Volksbibel. Das heilige Wissen wird demokratisiert. Es war eine ähnliche Kommunikationsrevolution wie heute durch Internet, social media und KI.

  • 1492 entdeckte Kolumbus auf seiner Suche nach dem Seeweg nach Indien Amerika. Die neue Welt, eine Zufallsentdeckung mit Folgen. Seine Entdeckung brachte Verderben der alten in die neue Welt und Gold und Reichtum aus den neuen Ländereien in die alte Welt. Aber das war auch dort nicht nur Segen. Die Geldwirtschaft wurde stark, die Banken reich, wie etwa die Fugger, die Politik und Kriege finanzierten. Ist das heute anders, etwa in Amerika? Ärmer wurden die Armen, die Bauern vor allem. Das war eine erste Form der Globalisierung.
  • Und eine dritte Entdeckung. Nikolaus Kopernikus beobachtete die Gestirne – und stellte fest, so ab 1514: die Erde dreht sich um die Sonne – und nicht umgekehrt, wie man glaubte und was die Kirche zu glauben anleitete. Ihm glaubte man nicht oder nur wenige. Und er zog sich den Zorn der Kirche zu. Die alte Ordnung – und das ist ihr Erkennungszeichen – duldet nichts, was nicht in diese Ordnung passt. Die heilige Inquisition schickte Menschen auf den Scheiterhaufen, wenn es notwendig war.






Veränderungen, Aufbrüche, neue Welten überall. Mehr Veränderung als die alte Ordnung verkraften konnte. Die alten Grenzen galten nicht mehr. Das schürte Ängste. Angst vor dem Feind da draußen, den Türken vor Wien, den Muselmanen, die die Seele bedrohten. Angst vor dem Feind im Inneren: die Pest, die Krankheit im Inneren, die Viren des Todes überall. Angst vor den Feinden nebenan, den fremden Nachbarn: den Juden und Hexen, die man umbrachte, weil sie die eigene kleine Welt bedrohten, ohne sagen zu können, was da genau die Gefahr war. Hatespeech, die direkt zu Scheiterhaufen und Pogromen führte. Und die Religion, die Kirche …?
Und die Religion, die Kirche, sie gehörte zur alten Ordnung und verlor an Kraft, weil sie ihre Kraft des Heiligen verkaufte. Das Seelenheil, das, was Menschen umtrieb, wurde zum Geschäft, Religion zum Deal, das ewige Leben käuflich. Und wenn ich mir das nicht leisten kann? Dann kommt die Hölle – und die Ängste stiegen, die Menschen stürzten ab. Die Seelenkonflikte wurden schärfer, auch die Konflikte der Welt, die Risse in der alten Ordnung größer: Der Riss zwischen Kaiser und Reich, dem abendländischen Überbau und den nationalen und regionalen Herrschern, der Riss zwischen Kaiser und Papst, zwischen arm und reich. Abgründe wurden sichtbar – etwa in den Bildern von Hieronymus Bosch: Der Weltuntergang war nicht Zukunft, sondern Gegenwart.
Und dann kamen die mutig Entmutigten, Martin Luther etwa – nein, keine Lichtgestalt, mitnichten, im Gegenteil. Ein Mönch, der an der alten Ordnung hing mit ganzer Seele und daran scheiterte. Ängste blieben ihm sein ganzes Leben. Aber auch er machte eine Entdeckung: Im Zentrum des Sturms herrscht Ruhe. Dort findet sich Gott, nicht in einer lieblichen Oase, sondern am Kreuz. Luther entdeckt im Zentrum allen Geschehens: das arme Menschenkind, von Gott geliebt. Das gibt Freiheit, zum Leben und zum Sterben. Neues Leben im Alten. Menschen konnten aufatmen und frei sein.



Glaube im Widerstand –
der linke Flügel des Evangeliums

Damit aber kam eine neue Frage auf: ob es denn nicht an der Zeit sei, nicht nur neues Leben im Alten zu entdecken, sondern die alte Welt selber umzubauen, es anders zu machen, in aller Freiheit. Darf man das, geht das überhaupt? Für Luther genügte der neue Wein in alten Schläuchen. Für andere nicht. Die anderen, das war der heute so genannte linke Flügel der Reformation, die sich nicht zufrieden gaben mit einer Welt, wie sie ist, die Widerstand leisteten in Gottes Namen – und dafür mit ihrem Leben bezahlten: Täufer und die Bauern. Vor 500 Jahren, 1525 fand in Zürich die erste Erwachsenentaufe statt, 1527 wurde der sog. Wiedertäufer Felix Manz in Zürichs Limmat ersäuft. Und 1525 wurde der Bauernführer Thomas Müntzer in Mühlhausen enthauptet – im Namen Gottes und durch die Macht der alten und neuen Kirchen.
Warum, so die Frage der Bauern und ihrer Anführer, sollten die alten Ordnungen, die so viel Ungerechtigkeit mit sich bringen, unveränderbar sein? So fragte auch Thomas Müntzer, ein Kirchenmann, ein Bewunderer Martin Luthers, der aber einen anderen Weg ging. Die Gerechtigkeit im Himmel muss etwas mit der Gerechtigkeit auf Erden zu tun haben, so die Vorstellung. Es kann nicht gerecht sein, dass die Bauern ausgebeutet werden, dass die Realwirtschaft auf Kosten der Bankenwirtschaft an Wert verliert – nicht gerecht, weil es vor Gott nicht richtig ist. Denn es kann nicht sein, dass es Menschen erster und zweiter Ordnung gibt, vor Gott sind alle gleich. Das hat sich dann in den Memminger Bauernartikeln von 1525 niedergeschlagen. Da finden sich Forderungen nach mehr Rechte für den Bauernstand. Und diese waren verknüpft mit theologischen Einsichten, mit religiösen Hoffnungen. In einem Artikel heißt es: »Darum ergibt sich aus der Schrift, dass wir frei sind und sein wollen.« Das war etwas Neues – und das provozierte die alten Ordnungen des Staates wie der Kirche. Und die wehrten sich mit aller Macht, um ihre Privilegien zu verteidigen. Eine unheilige Allianz zwischen der Staatsmacht hier und den Kirchen dort, zwischen den altgläubigen Katholiken und den Neugläubigen Evangelischen baute sich auf dem Ziel: den Baueraufstand niederzuschlagen. Das gelang. Thomas Müntzer wurde gefangengenommen, gefoltert und am 27. Mai 1525 öffentlich in Mühlhausen enthauptet. Auch Luther war auf Seiten der alten Ordnung, legitimierte die Gewalt: »Ich habe im Aufruhr alle Bauern erschlagen; all ihr Blut ist auf meinem Hals. Aber ich schiebe es auf unseren Herrgott; der hat mir befohlen, solches zu reden.« Aber am Ende haben sie gewonnen: In den Memminger Bauernartikeln wird die Gleichheit der Menschen als Grundlage für Gerechtigkeit benannt – das war der Keim der Menschenrechte in aufgeklärten Zeiten.
Zum linken Flügel gehören auch noch andere. Die sogenannten Täufer etwa, dafür steht Felix Manz aus Zürich. Die Täufer waren zunächst nichts anderes als eine reformatorische Gruppe, vom bürgerlichen Reformator Zwingli inspiriert. Sie nahm die Idee der Glaubensfreiheit ernst. Zunächst: Taufe ist kein Geschäft der Priester, sondern eine Begegnung mit Gott durch seinen Geist. Getauft werden Erwachsene, die sich Gott anvertrauen. Den Machtapparat Kirche braucht man nicht. Und heißt Glaubensfreiheit nicht auch Freiheit vom Staat? Die Obrigkeit mag zum Schwert greifen, um die Ordnung herzustellen, aber Christen sind Pazifisten, sie haben den Wehrdienst zu verweigern. Die Gesellschaft mag sich durch Kauf und Verkauf, durch Eigentum und Konsum am Leben erhalten. Aber Christen sind den Armen verpflichtet, leben vom Teilen, nicht vom Haben, sondern vom Sein in Christus. Damit ist auch hier die alte Ordnung von Staat und Kirche außer Kraft gesetzt – und alte Ordnungen wehren sich, die katholischen Altgläubigen in enger Verbundenheit mit den evangelischen Neugläubigen. Die Täufer wurden verfolgt, vertrieben, verbrannt oder wie Felix Manz in der Limmat ersäuft. Die Täufer aber gaben ihren Pazifismus nicht auf. Dafür steht etwa Dirk Willems. Er war Täufer, wurde verfolgt, sein Verfolger fällt ins Wasser, droht zu ertrinken. Willems rettet ihn, wird verhaftet und verbrannt. Der Pazifismus als utopische Hoffnung und gesellschaftliche Möglichkeit aber lebte weiter.
Geschichte ist keine Blaupause für problemlose Zukunftsplanung, sondern möglicher Lernraum in Veränderungsprozessen. Dabei wäre zu lernen, wie es zugeht, aber nicht weitergeht: Wenn die Sehnsucht nach Gerechtigkeit einfach überhört wird, Gesellschaft gespalten und Minderheiten mundtot gemacht werden. Den Knüppel aus dem Sack zu holen, um den Widerstand zu brechen – das machte die Welt nicht besser, sondern richtete sie zugrunde. Es führte zum Dreißigjährigen Krieg, der Europa ausbluten ließ – eine Warnung, rechtsextreme Bürgerkriegsphantasien und amerikanische Handelskriegsszenarien sind ein Spiel mit dem Feuer, Höllenfeuer und Weltbrand inklusive. Aus der Geschichte des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit aber kann man auch übernehmen, was weiterträgt: dass es Menschen braucht und gibt, die Widerstand leisten und so das System verändern und neue Perspektiven eröffnen, die für Freiheit einstehen, damit Freiheit entstehen kann, die Not beim Namen nennen und Notwendiges einfordern. Hier wurzeln Menschenrechte, das Völkerrecht, Demokratie als Schutzraum auch für die Schwächeren und die Sehnsucht nach Frieden. Und Träger dieser Widerstandsbewegung waren immer wieder Verfolgte und Marginalisierte, weil deren Hoffnungen über die Grenzen des scheinbar Möglichen gehen. Zu den Verfolgten damals zählt zum Beispiel auch Jan Amos Comenius, Pädagoge, Gelehrter und Pfarrer der Gemeinde der Böhmischen Brüder, evangelisch und von den Habsburgern verfolgt, auf der Flucht durch Europa. Und dennoch hielt er an einer besseren Welt fest, organisierte mit neuen Ideen Bildung als Chance des Menschlichen, hielt fest an einer friedlichen Welt. Angelus pacis, sein Buch, ist eine der wichtigen europäischen Friedensdokumente geworden. Das macht die Welt nicht besser und auch nicht die Menschen, schafft aber Möglichkeiten, es besser zu machen, Überlebenstraining in abgründigen Zeiten. Und die Spur geht weiter, bis hin zu Ostermärschen und zur KSZE, die vor 50 Jahren ein Europa des Friedens organisieren wollte. Zumindest ein europäisches Förderprogramm ist nach ihm benannt … Und das verknüpft sich mit einer ganz anderen Sehnsucht, der Sehnsucht nach einem guten Gott. So ist eine neue Zeit, die Neuzeit entstanden, Gegenwart mit ungewisser Zukunft.


Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe.


Und dann gibt es noch eine Zeitenwende ganz anderer Art, die Apokalypse: Untergang der alten, Aufgang einer neuen Welt, göttliches Endzeitszenario, wie sie etwa in der Apokalypse mit frommen Schaudern nachzulesen ist. Diese religiöse Grundidee, die auch im Übergang von Mittelalter zur Neuzeit aktiviert wurde, scheint auch heute wieder aktuell zu sein, gibt sie doch den Veränderungen und Umbrüchen einen neuen Deuterahmen. Und manche der politischen Brandstifter bedienen sich auch gerne dieser religiösen Rhetorik, um Konflikte anzuheizen und sich als letzte Schlachten-Retter vor dem kommenden Paradies zu inszenieren. Das Jüngste Gericht allerdings ist nicht Schlachtengetümmel, sondern eben Gericht, Gerichtsprozess gegen jene, die Recht unterlaufen und Gerechtigkeit außer Kraft setzen. Und dieses Gericht stellt sicher, dass die Mörder am Ende nicht auch noch über ihre unschuldigen Opfer triumphieren, so der Sozialphilosoph Max Horkheimer. Das Jüngste Gericht ist getragen nicht von der Lust am Untergang, sondern von der Sehnsucht nach dem ganz Anderen, der Sehnsucht nach Gott und seiner Gerechtigkeit. Diese Apokalypse ist damit kein Spektakulum in fernen Zeiten, sondern macht offenbar, was im Umbruch der Zeiten auf dem Spiel steht. Was steht heute auf dem Spiel? »Zum ersten Mal in der Geschichte hängt das physische Überleben der Menschheit von einer radikalen seelischen Veränderung des Menschen ab.«, ist ein zentraler Satz des Psychoanalytikers Erich Fromm aus seinem Buch »Haben oder Sein«, geschrieben 1976. Und was hat sich in diesem letzten halben Jahrhundert verändert? Die globale Dramatik hat zugenommen, so die Weltrisikoberichte – ist aber die Seele eine andere geworden? Und was, wenn die Seele dazu auch nicht (mehr) in der Lage ist? Der Dauerweckruf macht nicht wacher, sondern scheint zu ermüden, die Seele ermattet und geht daran zugrunde. Das spüren heute viele, die guten Willens sind. Wie aber anders, damit es anders kommt? Anders setzt Jesus den Akzent mit seiner Handlungsanleitung für das Überleben in den letzten Tagen: »Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe.« Buße - das klingt zunächst nach einem Leben voller Gefahrenschilder und Verbote. Der Aufgabe geht aber eine Vorgabe voraus: Das Himmelreich ist nahe, Friede und Gerechtigkeit sind möglich, Überleben hat eine Chance. Sie wird sichtbar, wenn Menschen genug zu essen haben, spürbar, wenn sie geheilt werden, hörbar, wenn sie beten und singen. Buße tun – das ist Entmutigung, dass Neuanfänge aus eigener Kraft schon irgendwie zu schaffen sind, und Ermutigung, dem Guten im Leben zu vertrauen. Oder anders formuliert: »Die Freude der Buße«, so der evangelische Theologie Julius Schniewind, die fröhliche Abschiednahme vom Starren auf Weltuntergang und Neuwerdung, Abschiednahme von der fixen Idee, die Seele, samt Hirn und Herz, könne schon, wenn sie wolle, die Welt noch retten – und Einkehr in die Wirklichkeit, in den Planeten B, der ist, wie er ist: schrecklich und zugleich die Beste aller Welten, nicht weil alles Bestens ist, sondern weil alles vorhanden ist, um zu überleben: Gerechtigkeit und Brot – und viele Menschen mit unterschiedlichen Vorstellungen gelingenden Lebens. So die Perspektive der katholischen Soziallehre. Und dazu evangelisch-lutherischer Pragmatismus: Alle Ordnungsversuche sind nicht mehr als »Notregiment«, heute würde man sagen: Krisenmanagement. Widerstände, die Leben eröffnen, in der neuen Unübersichtlichkeit einer diversen, multiplen und gerade so lebendigen Gesellschaft 1.

Auf diesem Planten B lassen sich auch Wege in die Zukunft finden – auch wenn das Navigationssystem sich hier ändern muss. Dabei hilft das alte Navisysteme nicht weiter. Da fahre ich auf mein Ziel zu, das Navi gibt mir Anweisungen, eine habe ich überhört, ich bin auf falschem Weg unterwegs. Dann kommt die Stimme, ziemlich penetrant: Bitte wenden. Nach 30 Sekunden nochmals: Bitte wenden. Aber ich kann nicht wenden, es ist eine Einbahnstraße. Ich schalte das Navi aus. Es ist veraltet, es gibt aber ein neues Navisystem, das anders klingt: Die Route wird neu berechnet. Das erleichtert, ich kann weiterfahren – und komme über Umwege doch zum Ziel, das vielleicht ganz anders ist, als erwartet.
Es könnte sein und viele Anzeichen deuten in diese Richtung: Nach 500 Jahren ist die Neuzeit erschöpft und am Ende. – Postmoderne oder Nachneuzeit waren erste Indikatoren für diesen Wandel. Begonnen hat sie mit der Entdeckung des Neuen jenseits der Grenzen der alten Welt. Ins Zentrum rückte der Mensch, von Sünde und aller Vormundschaft befreit. Entstanden ist der auto-mobile Mensch in einer Welt, die zur Ressource wurde. Fortschritt, das andere Wort für Optimierungslogik, Veränderungsdynamik und Wachstumszwang, wurde zum Markenzeichen der Neuen Welt. Erst im Laufe der Zeit kam anderes hinzu: dass Menschenrechte und Demokratie notwendig sind als Schutzraum des Menschlichen. – Das war Arbeit und Verdienst des Widerstands. Und es keimte die Ahnung, dass der Mensch vielleicht doch nicht so edel und gut ist und vielleicht zu schwach für das Projekt Fortschritt, dass die Ressourcen sich erschöpfen, Öl und Seelenkraft, Dauerwachstum als Überforderung. Dadurch entsteht eine neue Form von Widerstand, die lernt, in und mit Grenzen zu leben. – Realismus als neue Utopie, loslassen, was nicht zu halten ist. Dazu braucht es, der Apokalypse ähnlich, neue Geschichten, etwa diese: Irgendwann in 50 Jahren erzählt man dann den Kindern beim Osterspaziergang über leere Autobahnen am Denkmal des letzten SUV Geschichten von fossilen Verbrennern und vom Widerstand gegen rechts, der den richtigen Weg eröffnete. Dann steigt man in den Gemeinschaftsbus, angetrieben von irgendwas, Hoffnung vermutlich. Die Kindern weigern sich, wollen lieber spielen, der Widerstand geht weiter.

1    Armin Nassehi, Kritik der großen Geste.
Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken,
München 2024

Post scriptum

In den Tagen der Fertigstellung dieser Nummer erreichte uns die Nachricht vom Tod Franziskus´, des »größten Brückenbauers« (Pontifex Maximus), der uns geprägt und begeistert hat mit seiner bescheidenen Art. Sie hat seine zentralen Anliegen umso stärker in den Fokus stellt:

-    Die Besinnung auf die Barmherzigkeit Gottes, die uns barmherziges Handeln zur Kernaufgabe macht.
-    Die Einsicht, dass die Zerstörung der Schöpfung nur unter Einbeziehung der weltweiten sozialen Gerechtigkeit ehrlich bekämpft werden kann (Enzyklika »laudato si«) und
-    dass die himmelschreiende Ungerechtigkeit in »unserem gemeinsamen Haus« nur unter Einbeziehung der Rettung unser geschundenen Schöpfung bekämpft werden kann (Enzyklika »fratelli tutti«)
-    Seine intensiven Bemühungen um die Aussöhnung von Juden, Christen und Muslimen
-    Dass Gott da ist für alle Menschen, unabhängig von Religion, Herkunft oder Geschlecht.

Der Tod dieses inspirierenden Papstes schmerzt gerade in dieser Zeit, in der weltweit nationale Egoismen, die brachiale Durchsetzung des Rechts der Stärkeren, die skrupellose Priorisierung des eigenen Wohlstands gegenüber unseren Werten und damit gegenüber den marginalisierten Opfern von Ausbeutung, Krieg und Klimawandel Oberhand zu gewinnen scheinen.

In einer Zeit, in der die Kirchen Mitglieder und gesellschaftliche Bedeutung verlieren und unter Veränderungsdruck stehen, stand Papst Franziskus für eine weltoffene Kirche und eine Gemeinschaft über alle Grenzen, in der alle Menschen ihren Raum haben sollen.

Vielleicht bekommt durch seinen Tod nun seine Botschaft mehr öffentliche Aufmerksamkeit.
Das wäre so nötig!