Aktionen von Klimaschutzaktivist*innen werden in der Öffentlichkeit wie auch innerhalb der christlichen Kirchen äußerst kontrovers und polemisierend diskutiert. Dabei hat Papst Franziskus in seiner 2015 veröffentlichen Enzyklika Laudato Si »die Schwäche der Reaktionen« auf Umweltverschmutzung, Klimawandel und soziale Ungerechtigkeit deutlich benannt und zu mehr Engagement aufgefordert. Ausbleibende nationale und internationale politische Weichenstellungen frustrieren insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene, die deshalb zu gewaltfreiem Zivilem Widerstand greifen.
Jörg Alt, Ordenspriester und Migrationssoziologe, setzt sich in seinem Beitrag mit von ihnen praktizierten Formen zivilen Ungehorsams und Widerstands auseinander und fragt nach deren Rechtfertigung gerade auch aus biblisch-theologischer Sicht. In seinen Artikel fließen langjährige Erfahrungen in der Arbeit für und mit Geflüchteten und der Entwicklungszusammenarbeit ein. In der Öffentlichkeit weist P. Jörg Alt seit über 35 Jahren, gemeinsam mit UN-Institutionen, darauf hin, dass nicht Flüchtende sondern Fluchtursachen das Problem sind, und dass der Klimawandel globale Fluchtbewegungen dramatisch ansteigen lassen wird.
Ihre Redaktion
Mein Weg in den Zivilen Ungehorsam und Widerstand hatte viele Stufen, zum Beispiel habe ich auf meinen Projektreisen immer wieder gesehen, dass der Globale Norden im Globalen Süden fruchtbare Ackerflächen belegt, um für seine BioFuels Plantagen und Monokulturen anzulegen – und dabei Menschen zu vertreiben, die seit Generationen auf diesen Flächen ihr Leben führen und Ökosysteme hegen und pflegen.
Wie sehr sich die Lage zuspitzt, wurde mir allerdings erst durch die Proteste der FridaysForFuture deutlich, die mir erklärten, was Kipppunkte sind. Und durch den Hungerstreik der Letzten Generation, als sechs junge Menschen vor der letzten Bundestagswahl die Kanzlerkandidat*innen aufforderten, mit ihnen öffentlich über das Fortschreiten der Klimakatastrophe und die düsteren Aussichten für den Globalen Süden und kommende Generationen zu diskutieren.
Nochmals: All die Probleme, die sich aus unserem wachstumsbasierten Produktions- und Konsumsystem ergeben, sind seit über 50 Jahren bekannt. 1972 veröffentlichte der Club of Rome den Bericht »Grenzen des Wachstums«, in dem die Problementwicklungen erschreckend präzise vorhergesagt wurden. Aber auch der »gesunde Menschenverstand« müsste doch verstehen, was selbst Ökonomen zugeben: In einem begrenzten System kann es kein unbegrenztes Wachstum geben (Kenneth Boulding). Aktuell wirtschaftet die Welt, als ob es mehrere Planeten Erde gibt. Es gibt aber nur diese eine Erde, weshalb der Erdüberlastungstag jedes Jahr früher kommt: Dieser symbolisiert den Moment, an dem die Erde entnommene Ressourcen nicht mehr regenerieren kann, sondern ab dem die Menschheit auf Kosten des Globalen Südens und kommender Generationen lebt.
All dieses Wissen wurde seit Jahrzehnten erforscht und publiziert. Es wurde in Kampagnen, Petitionen, Diskussionen und Publikationen in die Öffentlichkeit getragen. Die FridaysForFuture trugen es im »Klimastreik« unignorierbar auf die Straße – es hat nicht zur nötigen Einsicht und zu den nötigen Veränderungen geführt.
Das ist der Punkt, an dem andere Instrumente zu Einsatz kommen müssen und dürfen – eben Ziviler Ungehorsam und Widerstand, wie von der Letzten Generation praktiziert: Sie wollen den Alltag stören und unterbrechen, bevor dies der Klimawandel tut.
Ziviler Ungehorsam und Widerstand haben historisch eine lange Tradition:
Ziviler Ungehorsam ist, wenn eine rechtliche Einzelnorm in Bezug auf eine höhere rechtliche Norm gebrochen wird. Konkret: Stiehlt man Essen aus einer Mülltonne, ist dies Diebstahl, da man »herrenloses Eigentum« (so die Definition dieses »Mülls« durch das Bayerische Oberste Landesgericht) rechtswidrig entwendet. Jene aber, die das tun, berufen sich auf Artikel 14 Absatz 2 Grundgesetz und sagen: Eigentum verpflichtet. Wenn Menschen Hunger haben oder sonst in Not sind, sollen sie sich Essen nehmen können, ohne dass dies als Diebstahl gilt. Ähnlich ging es Martin Luther King und seiner Bürgerrechtsbewegung um die faktische Umsetzung vorhandener Gesetze UND höchstrichterlicher Rechtsprechung zur Rechtswidrigkeit der fortgesetzten Rassentrennung in den USA.
Ziviler Widerstand hingegen ist umfassender. Er richtet sich nicht nur auf einzelne Rechtsnormen, sondern kritisiert ein gesamtes System an rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Normen als ungerecht. Bekannte Beispiele sind hier der Kampf gegen die Sklaverei oder der Widerstand Gandhis gegen die britische Herrschaft in Indien. Sein »Salzmarsch« beispielsweise richtete sich gegen soziale, rechtliche und wirtschaftliche Schieflagen.
Genau diese beiden Instrumente spiegeln sich auch in den Aktionen der Letzten Generation wider: Die erste Aktion nach dem Hungerstreik war im Dezember 2021 Containern mit der Forderung nach einem EssenRettenGesetz, d.h. einer Reform der aktuellen Lebensmittel-Überproduktion, -verschwendung und -vernichtung. Die Straßenblockaden hingegen zählen als Ziviler Widerstand, da sie sich symbolisch dem fossilen Weiter-So unseres aktuellen neoliberalen Wirtschaftssystems in den Weg stellen und umfassendere Reformen bei der Agrar-, Energie-, Verkehrs- und Wirtschaftswende fordern.
Ziviler Ungehorsam und Widerstand finden sich auch in der Bibel. Natürlich nicht unter diesem Namen. Aber wie sonst soll man die Kritik der Propheten an sozial ungerechten Zuständen bezeichnen, denen sie sich mit Worten und Zeichenhandlungen in den Weg stellten, bis sie weggesperrt wurden? Oder Jesus: Er brach das absolut wichtige Sabbatgebot, wenn ein Mensch in Not war und deshalb Heilung erhoffte. Natürlich hätte das noch einen Tag Zeit gehabt, aber Jesus war deutlich: Gesetze sind um des Menschen willen da, nicht umgekehrt.
Es gibt hunderte von Beispielen in der Geschichte, in denen eine kleine Gruppe entschlossener Menschen Missstände in einer gegebenen Gesellschaft nicht mehr hinnehmen konnten und wollten und sich entsprechend quergestellt haben. Auch das Frauenwahlrecht, die Sozialgesetzgebung und viele anderen Errungenschaften, die uns heute selbstverständlich vorkommen, wurden auf diese Weise erstritten. Die historische Betrachtung zeigt: Kleine Gruppen haben so lange unignorierbar genervt und gestört, dass die Mehrheitsgesellschaft unausweichlich gezwungen war, sich mit deren Anliegen zu befassen und sich zu positionieren. Und: Wie es Klimakipppunkte gibt, so gibt es Kipppunkte innerhalb von Gesellschaften: Irgendwann ist die Mehrheitsmeinung zu Gunsten der Störer gekippt und aus einer Minderheitensicht wurde ein
neues gesellschaftlicher Konsens. Sklaven waren eben plötzlich kein Eigentum mehr, sondern Menschen mit Würde und Rechten. Etwas früher Legales war plötzlich illegal. Punkt.
Ein wichtiges Kriterium in diesen Bewegungen ist natürlich die Gewaltfreiheit, und ein Blick in die Geschichte belegt, dass gewaltfreie Bewegungen tendenziell erfolgreicher waren als Bewegungen, die Gewalt angewendet hatten oder sich nicht deutlich genug davon distanzierten. Der Gewaltbegriff im eigentlichen Sinne gilt allerdings nur im Hinblick auf Menschen, während »Gewalt gegen Sachen« rechtlich nicht existiert und man in solchen Fällen eben von Sachbeschädigung oder Vandalismus spricht. Hier ist auch eine Grauzone, da es durchaus auch aktivistische Gruppen gibt, die etwa Sabotage oder Fassadenbeschädigungen für angebracht halten.
Ein weiteres wichtiges Kriterium ist, dass man letztlich rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien nicht verletzt. Auch dies ist bei der Letzten Generation der Fall: Sie appelliert an die Bundesregierung, die völkerrechtlichen Verpflichtungen des Pariser Abkommens, den Artikel 20a Grundgesetz und das »Klimaurteil« des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen und dabei ihren Amtseid zu erfüllen, nach dem Regierungsmitglieder gelobt haben, den Nutzen des Volkes zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden. Auch steht jeder Aktivist mit Name und Gesicht für seine Taten ein – die Taten geschehen nicht im Dunkeln oder vermummt. Und: Jeder ist bereit, die Strafe für Gesetzesbrüche in Kauf zu nehmen. Mehr Respekt vor dem Rechtsstaat und seinen Institutionen geht nicht.
Eine letzte Legimitation? Ist es Erpressung? Ist es Nötigung? Alles eine Frage der Perspektive. Erpressung ist gewöhnlich die Ausübung oder Androhung von Zwang und Gewalt zur Erringung eines persönlichen Vorteils. Nötigung ist, wenn man andere rechtswidrig zu etwas zwingt, das die nicht wollen. Nur: Wo ist der eigene Vorteil bei den AktivistInnen? Sie treten ein für Menschen im Globalen Süden und kommende Generationen und sie werden für ihre Taten bestraft. Oder: Wer ist der »erste Nötiger«? Aus Sicht der AktivistInnen all jene, die das fossile Weiter-So befeuern, indem sie Lützerath abbaggern, Milliardensubventionen aus Steuermitteln einsacken und nicht einmal kostenlose, aber effektive Maßnahmen wie ein Tempolimit einzuführen bereit sind. Insofern ist dieses aktivistische Handeln auch ethisch sehr gut absicherbar.
Die letzte Rechtfertigung von Zivilem Ungehorsam und Widerstand ist die vollumfängliche Rückendeckung dieses Protestes durch die Wissenschaft, denn diese Form von Widerstand versucht ja nur, dem wissenschaftlichen Konsens dahingehend, dass die Menschheit gerade in vollem Wissen um die Gefahren ihre Überlebensgrundlagen gefährdet, Geltung und Gehör zu verschaffen. Ebenso der Umsetzung der in Paris beschlossenen Klimaziele, die vom Bundestag einstimmig angenommen wurden, der Geltung des »Klimaurteils« des Bundesverfassungsgerichts vom April 2021 und dem Klimagesetz der Bundesregierung, dem sich beispielsweise das Bundesverkehrsministerium verweigert.
Entsprechend verlassen seit dem letzten Bericht des Weltklimarates auch zunehmend Wissenschaftler den »Elfenbeinturm« und mischen sich in die gesellschaftspolitische Debatte ein: Sei es mit journalistisch geschriebenen Büchern (Claudia Kemfert) oder lustigen Videos (Volker Quaschning). Andere gehen gar auf die Straße und beteiligen sich an Blockaden, wie etwa die Herbst-Protestwelle der Scientist Rebellion Gruppe deutlich machte – auch Prof. Julia Steinberger, eine der Leitautorinnen des letzten IPCC Sachstandsberichts, klebte sich am 11. Oktober 2022 auf einen Autobahnzubringer.
Dieser Respekt vor Recht und Gesetz, vor demokratischen Institutionen und der Rückhalt in der Wissenschaft unterscheidet und rechtfertigt diese Form des Protest in diesem Fall. Deshalb ist es falsch zu fragen »Das könnte dann doch jeder machen!«. Es ist ja auffällig, dass andere Gruppen, die lärmen und nerven, sich maximal auf die »Interessen nicht gehörter Bevölkerungsgruppen« berufen, aber weder Wissenschaft, noch Grundrechte, noch Rechtsprechung für ihre Forderungen und Parolen auf der Seite haben, während diese Form der Legitimierung anderen Gruppierungen, die damit liebäugeln mögen, fehlt. Anderen Gruppen, etwa Flüchtlingsgegnern, Nationalisten oder populistischen Parteien, geht es in erster Linie lediglich um die Verteidigung von Privilegien und Gruppenegoismus gegenüber anderen, von denen sie sich bedroht fühlen. Solche Gruppen verkennen jedoch, dass sich in einer global vernetzten Welt, in der wir etwa mit unserer Wirtschaft Geld verdienen wollen, auch Risiken nicht länger mit gut gesicherten Außengrenzen oder gar Schießbefehlen aufhalten lassen. Etwa der Klimawandel, zusammenbrechende Lieferketten, Lebensmittelversorgung oder Migration.
Insofern ist der Zivile Ungehorsam und Widerstand angesichts der herannahenden Kipppunkte und Destabilsierungsgefahren im Weltklimasystem sowie der schrumpfenden Handlungsfenster vielleicht unsere letzte Chance. Die letzte Gelegenheit, nicht nur die Überlebensgrundlagen der Menschheit zu sichern, sondern auch die Ordnung von Recht und Regeln. Es geht um die Zivilisation, die wir uns in den vergangenen Jahrhunderten mühsam errungen haben.
Handelt! Ein Appell an Christen udn Kirchen, die Zukunft zu retten,
Jörg Alt, Münsterschwarzach (Vier-Türme-Verlag), 2020.
Einfach Anfangen! Bausteine für eine gerechtere und nachhaltigere Welt,
Jörg Alt, Münsterschwarzach (Vier-Türme-Verlag), 2021.
Widerstand! Gegen eine Wirtschaft, die tötet,
Jörg Alt, Münsterschwarzach (Vier-Türme-Verlag), 2022.
Die letzte Generation - das sind wir alle. Wenn die Welt in Flammen steht, hilft es nicht, den Feueralarm auszustellen,
Jörg Alt, Lina Eichler, Henning Jaschke,
München (bene!), 2023.
Fotos:
Martin Fronkreich, (Archiv letztegeneration.de) (S.2)
Fotoprojekt »Lost Place«:
Julia Wilhelm (S. 4, 5); Sophie Titz (S. 7);
Christoph Ranzinger (S. 1, 3, 6, 8)
Verantwortlich:
Siegfried Kratzer (im Auftrag des Evang.-Luth. Landeskirchenamtes Bayern) Pfälzer Straße 7a, 92224 Amberg; Prof. Dr. Hans Jürgen Luibl, Ginsterweg 4, 91099 Poxdorf; Dr. Matthias Pfeufer (im Auftrag des Kath. Schulkommissariats in Bayern), Poxdorf 24, 96167 Königsfeld; Christoph Ranzinger, Pauckerweg 5, 81245 München
Gestaltung: Christoph Ranzinger
Im Auftrag des Evangelischen Landeskirchenamtes Bayern und des Katholischen Schulkommissariates Bayern