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»Diesen Krieg hätte man verhindern können«  
Ausgabe: 195/2022

»Diesen Krieg hätte man verhindern können«

Ukrainekrieg und Militarismus

Interview mit dem Militärhistoriker und Friedensforscher Wolfram Wette

 

 

 

Vorwort:
Im August 1934 sagte Dietrich Bonhoeffer – angesichts der für ihn bereits erkennbaren Kriegsgefahr – bei einer ökumenischen Tagung auf der Insel Fanø Folgendes:

»Wie wird Friede?
Durch ein System von politischen Verträgen? Durch Investierung internationalen Kapitals in den verschiedenen Ländern? D.h. durch die Großbanken, durch das Geld? Oder gar durch eine allseitige friedliche Aufrüstung zum Zweck der Sicherstellung des Friedens?
Nein, durch dieses alles aus dem einen Grunde nicht, weil hier überall Friede und Sicherheit verwechselt wird. Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg zur Sicherheit.
Denn Friede muss gewagt werden, ist das eine große Wagnis, und lässt sich nie und nimmer sichern. Friede ist das Gegenteil von Sicherung. Sicherheiten fordern heißt Misstrauen haben, und dieses Misstrauen gebiert wiederum Krieg.
Die Stunde eilt – die Welt starrt in Waffen und furchtbar schaut das Misstrauen aus allen Augen, die Kriegsfanfare kann morgen geblasen werden – worauf warten wir noch?
Wollen wir selbst mitschuldig werden wie nie zuvor?«


Bonhoeffer hat damals für diesen dezidiert vorgetragenen Standpunkt nur wenig Zustimmung aber viel Kritik geerntet. Und doch macht seine Rede auch heute noch – gerade auch angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine – nachdenklich.
Für den Militärhistoriker und Friedensforscher Wolfram Wette ist – mit Gustav Heinemann – nicht der Krieg, sondern der Frieden der Ernstfall.
Die Redaktion

Das ursprüngliche Interview mit Wolfram Wette führte Oliver Stenzel.
Es wurde in der Kontext-Wochenzeitung (Stuttgart) Nr. 572 vom 16.03.2022 veröffentlicht.
Die Fragen für Begegnung & Gespräch stellten Oliver Stenzel und Siegfried Kratzer.

Wolfram Wette, Jahrgang 1940, gilt als einer der renommiertesten Militärhistoriker Deutschlands – mit einem für sein Fach ungewöhnlichen Schwerpunkt: Er forschte intensiv zu Kriegsprävention und Pazifismus. Von 1975 an arbeitete er am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg, ab 1998 war er Professor für Neueste Geschichte an der Universität Freiburg. Wette ist Mitbegründer des Arbeitskreises Historische Friedensforschung und unter anderem Mitglied des pazifistischen Arbeitskreises Darmstädter Signal sowie des Vereins »Gegen Vergessen – für Demokratie«;. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen »Weiße Raben. Pazifistische Offiziere in Deutschland vor 1933« und »Ernstfall Frieden. Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914«, beide erschienen im Donat-Verlag.

Herr Wette, in der Friedensbewegung herrscht wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine Ratlosigkeit. Ist momentan eine schlechte Zeit für Pazifisten?

Auf den ersten Blick haben wir es mit einem Scheitern des Projekts »Ernstfall Frieden« zu tun, das an Gustav Heinemanns Satz anknüpft: »Der Frieden ist der Ernstfall!« In der Friedensbewegung ist man schockiert und stellt sich die Frage: Haben alle, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs für ein dauerhaftes Friedensprojekt gearbeitet haben, etwas falsch gemacht?

Gustav Heinemann wurde zur Richtschnur für Ihr wissenschaftliches Arbeiten in der Historischen Friedensforschung. In welchem Zusammenhang sprach er vom „Ernstfall Frieden“?

Heinemann richtete bereits 1970 an die damalig aufsteigende Friedens- und Konfliktforschung folgende Mahnung. In diesem Zusammenhang sprach er auch vom Frieden als Ernstfall:
»Unendlicher Fleiß ist seit erdenklichen Zeiten von Geschichtsschreibern darauf verwandt worden, den Verlauf von Schlachten und Kriegen darzustellen. Auch den vordergründigen Ursachen von Kriegen wurde nachgespürt. Aber nur wenig Kraft, Energie und Mühe wurden in der Regel darauf verwandt, sich darüber Gedanken zu machen, wie man sie hätte vermeiden können.«


Was bedeutet Heinemanns Forderung auch heute noch für die Friedensbewegung?

Zunächst: Eine moderne Friedensbewegung muss man wohl mit dem Buchenwald-Schwur »Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!« beginnen lassen. Diese Forderung richtete sich an jene, die in der Vergangenheit Krieg zu verantworten hatten, und das waren die Deutschen selbst. Es war ein Appell an die deutsche Bevölkerung, zu begreifen, dass wir ein neues Kapitel in unserer Geschichte aufschlagen müssen.

Die Friedensforderung war also nach innen gerichtet.

Ja, sie war in erheblichem Maße nach innen gerichtet. Es ging um eine Mentalitätsveränderung, weg von einer militaristischen, hin zu einer demokratisch-friedlichen. Daran haben nach 1945 Generationen gearbeitet. Es gab Bewegungen von unten, die sich der Remilitarisierung Deutschlands entgegengestellt haben, es gab aber auch ein großes Lernen in den politischen Eliten, die sich von kriegerischen Überlegungen verabschiedeten und sagten: Zukunft ist nur noch mit Sicherheitspolitik zu gestalten, das heißt mit Kriegsverzicht. Darauf aufbauend, haben wir Jahrzehnte erlebt, in denen das militärische, machtpolitische Denken in die Defensive geraten ist und sich neue Mehrheiten für friedlichere Lösungen gefunden haben.

Waren sich wirklich alle in Deutschland einig, dass die Zukunft nur auf der Basis von Sicherheitspolitik und Kriegsverzicht gestaltet werden kann?


Machtpolitisch geprägte Menschen haben das als »postheroisch« zu verunglimpfen versucht, nach dem Motto: Wer von militärischer Macht nichts versteht, soll gefälligst von der Politik die Finger lassen. Doch eine große Mehrheit hat im Sinne Heinemanns begriffen: Nicht der Krieg, sondern der Frieden ist der Ernstfall.
Jetzt allerdings wird diese fundamentale Einsicht wieder massiv in Frage gestellt.

Das Friedensprojekt, das stark nach innen gerichtet war, ist nun herausgefordert durch einen Angriffskrieg, der nicht von Deutschland ausgeht. Wie reagiert man darauf?

Im aktuellen Krieg in der Ukraine ist die Kriegsschuldfrage zunächst einmal klar: Russland hat, aus welchen Gründen auch immer, das Land überfallen. Russland ist der Aggressor, der völkerrechtswidrig gehandelt und damit eine große Schuld auf sich geladen hat. Aber alle anderen Probleme, die damit zusammenhängen, scheinen aktuell wenig interessant zu sein. Es drängt sich der Eindruck auf, als falle die lange Vorgeschichte von Putins Aggression der offensichtlichen Kriegsschuld Putins zum Opfer. Eine wirkliche Analyse der Kriegsursachen gibt es zurzeit nicht.


Ist in Ihren Augen die fehlende Analyse der Kriegsursachen ein Versäumnis?

Stets ist zu fragen, ob mit jedem Krieg, der beginnt, aktuell die Diplomatie versagt hat, oder ob in der Vorgeschichte die Fehler zu suchen sind. Zurzeit ist es unpopulär, solch eine Frage überhaupt zu stellen. Aber ich bin überzeugt: Auch dieser Krieg hätte verhindert werden können. Kriege sind keine übernatürlichen Erscheinungen, keine Schicksale. Kriege sind Menschenwerk, deshalb gilt grundsätzlich: Auch die Kriegsverhinderung ist Menschenwerk. Das bedeutet zugleich: Der Erhalt des Friedens möglich – eine mehr als wichtige Aufgabe.



Kriegsverhinderung ist aber in diesem Fall nicht mehr möglich gewesen. Putin ist im allgemeinen Urteil ein Machtmensch, der von der Idee besessen ist, wieder ein zaristisches Großreich zu errichten. Da sind doch alle Anstrengungen im Vorfeld vergeblich, einen Krieg zu verhindern.


Ja, so hört man es sagen: Putin hat den Krieg gewollt, ergo ließ er sich nicht verhindern. Aber so ist es eben nicht. Putin hat eine Entwicklung durchgemacht. Die zurückliegenden Jahrzehnte sind dabei von größter Bedeutung, wenn man verstehen will, was jetzt los ist.  Ich habe die Beobachtung gemacht, dass viele Aspekte in der langen Vorgeschichte dieses Krieges außerhalb jeder Diskussion sind.
Dazu gehört vor allem die Rolle der USA nach dem Kalten Krieg, nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts, nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Bildung der neuen Länder, die zuvor zur Sowjetunion gehört hatten. Dazu muss auch die NATO-Osterweiterung mit ihren verschiedenen Etappen gesehen werden.
Darauf ist aufmerksam zu ma-chen, ohne gleich ein abschließendes Urteil darüber abzugeben.

Sie haben einmal gesagt, dass neben Russland und der Ukraine Amerika der dritte Akteur in dem gegenwärtigen Krieg sei. Wie ist das zu verstehen?


Die USA sehen sich als Sieger im Kalten Krieg und – nach der Selbstauflösung des Warschauer Paktes und des Vielvölkerstaates Sowjetunion in der Umbruchszeit 1989-1991 – als »einzig verbliebene Weltmacht«. Trotz anderslautender mündlicher Versprechungen der Amerikaner – nachweislich auch der deutschen Bundesregierung – im Jahr 1990 und 1991 stellte die Nato-Osterweiterung, möglichst bis an die russische Grenze, ein selbstverständliches Ziel amerikanischer Machtpolitik dar. Sie wurde in dem Zeitraum 1999 bis 2020 weitgehend realisiert. Schon 2008 forderte der damalige Präsident Bush die umgehende Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die Nato. Das war »ein Rückfall in den Triumphalismus früherer Tage.« So urteilte der USA-Experte Bernd Greiner. Ein entsprechender Beschluss der Nato wurde damals ausgebremst von Angela Merkel, Nicolas Sarkozy und anderen westeuropäischen Politikern, die Russland nicht provozieren wollten.

Es überrascht, dass die Ukraine nicht schon nach wenigen Tagen von der offensichtlichen Übermacht Russlands überrannt und vereinnahmt wurde. Die militärischen Hilfen vom westlichen Ausland setzten doch erst später ein. Damit war die Ukraine am Anfang immerhin ganz allein auf sich gestellt.


Das verhält sich etwas anders. Die USA unterstützten 2013/14 die Kiewer Maidan-Revolution mit dem Ziel, die Ukraine dem russischen Einfluss zu entziehen und sie in die Nato hereinzuholen. Nach dem Scheitern der beiden Minsker Abkommen 2014/2015 wählten die USA den Weg, die Ukraine militärisch aufzurüsten. Das überraschende Standhalten der ukrainischen Armee gegenüber der russischen Aggression ist ohne diese Aufrüstung mit modernen amerikanischen und britischen Waffen einschließlich türkischer Kampfdrohnen nicht zu erklären.

Hätte die Diplomatie dann überhaupt noch eine Chance gehabt?

Nach dem Beginn des Krieges sind die USA nicht durch diplomatische Vorstöße zu einem Waffenstillstand oder Friedensschluss hervorgetreten. Der amerikanische Verteidigungsminister Austin verkündete vielmehr Anfang Mai ein weit über die Ukraine hinausgehendes Ziel. Die Ukraine müsse den Krieg gewinnen. Und: „Wir wollen Russland in einem Maße geschwächt sehen, dass es dem Land unmöglich macht, zu tun, was es in der Ukraine mit der Invasion getan hat.“
Auch hier ist zu fragen: Wollen die USA derzeit einen Waffenstillstand oder ein Friedensabkommen? Die Antwort lautet eindeutig: Nein!
Die Hoffnung von uns Deutschen, dass das Töten, Sterben und Zerstören in der Ukraine ein rasches Ende nimmt, kann derzeit nicht auf greifbare Vorschläge der Hauptakteure verweisen. Die unterschiedlichen Interessenlagen von Russland, der Ukraine und der USA lassen eher eine Fortsetzung des Krieges auf unbestimmte Zeit erwarten..

Um noch einmal auf die Worte von Gustav Heinemann „Ernstfall Frieden“ zurückzukommen: Wo hätte der Westen mehr „Kraft, Energie und Mühe“ aufwenden sollen, um den Ausbruch des Krieges möglichst zu verhindern?


Es hätte auf jeden Fall größere Aufmerksamkeit auf die Bedrohtheitsgefühle der Russen gerichtet werden müssen.
Am Beispiel: Wenn man sich selbst sagt, ich bedrohe doch niemanden mit meinem Tun, ist das nur die eine Seite des Problems. Wenn aber der andere sich dadurch bedroht fühlt, ist das die andere Seite.
Deshalb ist in der Friedens- und Konfliktforschung viel von Bedrohtheitsvorstellungen und -gefühlen die Rede – weil das eben subjektive, aber auch kollektive Empfindungen sind, die man ernst zu nehmen hat. –
Dem wurde nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt.

Hätte bereits nach dem Ende des Kalten Kriegs mehr Augenmerk auf eine globale Friedens- oder Sicherheitspolitik gelegt werden sollen?

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die »Nie wieder Krieg«-Parole im Wesentlichen auf das bis dahin aggressive Deutschland ausgerichtet. Die Siegermächte – USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich – haben zwar auch die UNO-Charta unterschrieben, die auf Krieg verzichtet. In der Praxis haben sie gleichwohl immer wieder Krieg geführt und das militärische Instrument als relativ normales Mittel der Politik eingesetzt.
Es gab den Korea-Krieg, den Vietnam-Krieg, den Afghanistan-Krieg der Russen, den des Westens, die Suez-Krise, den Falklandkrieg und viele andere – da war keine gebrochene Tradition wie in Deutschland, sondern eine Kontinuität von militärisch gestützten Interessen.


Die Forderung »Nie wieder Krieg« gehörte ja auch zu den Grundlagen der Charta der Vereinten Nationen bei ihrer Gründung 1944. In den letzten Jahrzehnten war die UNO wohl mit Kriegsprävention nicht sehr erfolgreich. Was ist zu tun?

Die Versuche, den Krieg rechtlich einzudämmen, gehen noch weiter zurück. Der Versailler Vertrag 1919 hat eine wichtige Rolle gespielt, der Briand-Kellogg-Pakt von 1929, der das Verbot des Angriffskrieges beinhaltete, galt weltweit als ein Fanal für die Zukunft.
Später allerdings hat sich herausgestellt: So schön es ist, dass man den Angriffskrieg ächtet und mit internationalen Gerichten darüber wacht, es ist sehr schwer, ihn überhaupt zu definieren und später juristisch zu fassen.
Denn spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts werden alle militärischen Handlungen auf der Welt, ganz egal, wie sie aussehen, immer als Verteidigung ausgegeben. Ob am Hindukusch, am Suezkanal, auf den Falklandinseln oder sonst irgendwo. Alle haben immer nur verteidigt.

Aber der Überfall auf die Ukraine ist doch kein Verteidigungskrieg der Russen?

Der russische Außenminister Lawrow sagte vor kurzem in Antalya:  Russland sei das eigentliche Opfer. Der Westen habe mit scharfen Sanktionen und Waffenlieferungen an die Ukraine »wie ein Tollwütiger« reagiert, es gehe dem Westen um eine Aggression gegen alles, was russisch ist.
Lawrow argumentierte da eigentlich ganz im Sinne der deutschen Führung von 1941, die behauptet hatte, Deutschland sei mit seinem Überfall auf die Sowjetunion nur einem Angriff der Roten Armee zuvorgekommen, habe also einen Präventivkrieg begonnen.
Die Schuldumkehr ist ein beliebtes Mittel von Aggressoren. Das macht die Schwierigkeit der rechtlichen Einhegung von Kriegen aus.
Trotz allem aber glaube ich, dass das Problem tiefer liegt.

Wo liegt dann das eigentliche Problem?


Man muss zum Frieden bereit sein, es kommt ganz maßgeblich auf den Willen zum Frieden an. Für mich war erhellend, was der kenianische UNO-Botschafter Martin Kimani am 23. Februar gesagt hat:
Alle unsere Grenzen in Afrika sind durch Kolonialregime gezogen worden. Wir empfinden das als ungerecht und unmöglich, trotzdem haben wir uns entschlossen, die Grenzen zu akzeptieren. Alles andere hätte keine Zukunft. Es läge ein Jahrhundert von afrikanischen Kriegen vor uns, wenn wir es anders machen würden.
Also der Grundsatz, dass man endlich mal die Grenzen als unverrückbar betrachtet und keine Politik mehr mit Krieg betreibt, wenn das alle akzeptieren würden, dann wären wir schon weiter. Aber das ist jetzt von Russland nicht akzeptiert worden. Welch abenteuerliche Vorstellung, die Ukraine sei eigentlich kein Staat; das ist eine Revitalisierung geopolitischer Ansichten – ein Rückfall in die Eroberungspolitik früherer Zeiten.

Sobald also ein Akteur den Friedenswillen nicht teilt und die bestehenden Grenzen nicht akzeptiert, sind Krisen und Konflikte unausweichlich. Welche Gefahren erwachsen daraus?


Es besteht die große Gefahr, dass es international zu einer gravierenden Neuorientierung kommen wird. So eine Stimmung war auch in der Bundestags-Sondersitzung am 26. Februar. In einem bislang nicht für möglich gehaltenen Ausmaß war man sich darüber einig, dass die Rüstungsanstrengungen in Deutschland zu verdoppeln sind. Ähnliche Stimmungen gab es in anderen Ländern, die sich bedroht fühlen. Damit war das Signal gesetzt: Die Devise heißt jetzt weltweit nicht mehr Frieden, sondern Vorbereitung auf kriegerische Auseinandersetzungen. Immer, wo aufgerüstet wird, entstehen Feindbilder. – Dann frohlocken die Vertreter des militärisch-industriellen Komplexes.
Dann werden die Diplomaten weniger wichtig – und Friedensbemühungen werden eher belächelt als bestärkt.
Man geht einen hochgefährlichen Weg in militärische Eskalationsspiralen hinein. Die Folge: Es geschieht genau das, was wir eigentlich nach 1945 als großes Lernziel vermeiden wollten.

Blicken wir jetzt auch auf Deutschland. Sie haben einmal den Kosovokrieg als Präzedenz- und Sündenfall zugleich bezeichnet, weil die Bundeswehr hier erstmals in einem Angriffskrieg eingesetzt wurde.

Sind für Sie die Waffenlieferungen für einen kriegführenden und sich verteidigenden Staat auch ein Präzedenz- und Sündenfall – noch dazu, wo sich damit auch das Bekenntnis zur eigenen Aufrüstung verbindet?

Also, es ist zunächst einmal ein Bruch mit allem, was man bisher verkündet hat. Man hat in der Bundesrepublik ja schon seit den 1950er Jahren Waffenexport betrieben, aber gleichzeitig gesagt, spätestens ab den Siebzigern, wir wollen es nur sehr restriktiv handhaben; wir wollen nicht an kriegführende Länder liefern, nicht in Spannungsgebiete, nicht an Staaten, in denen Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Trotz dieser Beschränkungs-Rhetorik sind weiter massiv Waffen verkauft worden, selbst an kriegführende Länder. Zuletzt war das an Saudi-Arabien, das mit dem Jemen im Krieg steht. Man hat also die eigenen Grundsätze stets unterlaufen. Alle Anstrengungen, das zu unterbinden, haben bis jetzt nicht zum Erfolg geführt.
In dieser Kontinuität gesehen sind die Waffenlieferungen an die Ukraine nur teilweise eine Neuigkeit. Damit ist die Tradition der angeblich restriktiven Rüstungsexportpolitik nun endgültig kassiert.uropa«.

Ist damit eine zukünftige Beschränkung von Rüstungsexportpolitik passé?

Dass man jetzt Waffen in die Ukraine exportiert, heißt ja keinesfalls, dass es in der Vergangenheit falsch war, gegen die Exporte von Rüstung zu sein und dagegen zu argumentieren.
Es bleibt dabei, dass mit Waffen zugleich die Option für Kriegführung exportiert wird; dass eine Welt, die vollgepumpt ist mit Waffen aus den Industrieländern, immer gefährlicher wird.
Die neue Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, dass man ein neues Rüstungsexportgesetz nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa etablieren will, womit endlich die Restriktionen auch durchsetzbar seien.
Für all das gibt es natürlich zurzeit wenig Grundlage.

Welche Folgen könnte das haben?

Ich habe die Befürchtung, dass der enorme Aufrüstungssprung in der Bundesrepublik Wellen auslöst mit Militarisierungstendenzen in der ganzen Welt und dass eine reale Steigerung von Sicherheit dabei nicht herauskommen wird. Langfristige Sicherheit ist nur möglich, wenn sich alle Kräfte darauf richten, die internationale Vernetzung und den politischen Willen zu Gewaltverzicht miteinander zu verbinden. Das wäre eine strukturelle Basis von Frieden. –
Nun kann es ja sein, dass das nicht gelingt, aber dann sähe es übel aus.
Das ist die Alternative, die wir haben und die ich sehe:
Einerseits eine Militarisierung der Welt, ein neuer Kalter Krieg, mit der Gefahr eines realen, „heißen“ Krieges, oder wieder Anknüpfung an die vielen positiven Erfahrungen, die wir auch mit der Pazifizierungspolitik der vergangenen Jahrzehnte gemacht haben.

In Ihrem Buch »Militarismus in Deutschland« von 2008 haben Sie konstatiert, dass Sie keine breitflächige Militarisierung in der Gesellschaft sehen, dass der »Humus für die Entwicklung eines neuen Militarismus« noch fehle. Sehen Sie das immer noch so?


Im Moment ist das noch schwer durchschaubar. Ich habe in den vergangenen Jahrzehnten beobachtet, dass die Abneigung gegen alles Kriegerische und damit auch die Distanz zum Militär immer mehr gestiegen ist. Das korrespondierte mit einer sich verfestigenden pazifistischen Grundeinstellung in der Bevölkerung.
Ob sich die Haltung eines großen Teils der Bevölkerung – wir sprechen von 80 Prozent – jetzt durch den Ukrainekrieg geändert hat, ist durch Meinungsumfragen meines Wissens noch nicht ermittelt worden.

Der Soziologe Harald Welzer beklagt Militarisierung von Sprache und womöglich auch von Mentalitäten. Tatsächlich hat sich in den Medien die Sprache schon teilweise geändert, hin zu einer gewissen Pathetisierung und Emotionalisierung des Kriegführens. Der Widerstand einer Kriegspartei ist nun nicht mehr »hartnäckig«, sondern »heldenhaft« und »tapfer«. Künden auch solche sprachlichen Veränderungen schon von einer neuen Militarisierung?


Wir haben ja viel Erfahrung mit den Helden in Deutschland. Hier war der Held über das kriegerische 20. Jahrhundert hinweg keineswegs der, der einen Strauchelnden aus dem Wasser gezogen und ihn damit gerettet hat. Sondern Held war zumeist, wer sich unterwürfig in das militärische Ordnungssystem eingepasst und Krieg geführt hat. Für mich heißt das: Der Begriff des Helden in Deutschland ist mit sehr negativen Begleiterscheinungen verknüpft; keinen positiven. Wenn heute der ukrainische Präsident Selenskyj zum »heldenhaften Widerstand«, zur Verteidigung des ukrainischen Vaterlandes aufruft, dann hat das doch eine etwas andere Konnotation. Das sollte man beachten. Aber die Sprache ist immer der Vorbote und Ausdruck dessen, was unter der Zunge liegt.

Es wird auch davon gesprochen, Putin führe einen »Vernichtungskrieg«, Wurde dieser Begriff nicht eher auf Kriege wie den deutschen Überfall auf die Sowjetunion gebraucht?


Das Verwenden dieses Begriffes und anderer Begriffe belegt für mich, dass sich eine Enthistorisierung breit macht; dass viele Menschen heute gar nicht mehr wissen, was für einen Charakter der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion hatte. Man weiß wohl, dass es sich um einen deutschen Angriffskrieg handelte. Aber dass es zugleich ein systematischer Vernichtungskrieg war – wobei »Vernichtung« eben nicht nur die Schäden meint, die durch einen einzelnen militärischen Angriff auf ein Objekt geschehen, sondern eine flächendeckende, planmäßige Vernichtung von Bevölkerung und von Infrastruktur, um auf dem eroberten Gebiet ein neues Herrschaftssystem mit neuen Menschen aufzubauen.
Das nun leichtfertig mit Zerstörungen zum Beispiel von Hochhäusern in der Ukraine in Verbindung zu bringen, ist historisch unzulässig. Jenes Ausmaß an Vernichtungswillen, das vom damaligen nazistisch infizierten Deutschland ausgegangen ist, haben die russischen Streitkräfte in der Ukraine sicherlich nicht.

Ist das schlicht historische Unkenntnis oder ein bewusst fahrlässiger Gebrauch des Begriffs?


Ich fürchte, das ist Ausfluss eines reaktivierten Feindbilddenkens. Es passt alles in die Schablone: Der aggressive russische Bär im Osten, der uns bedroht, dem alles Böse zuzutrauen ist, diese jahrhundertealte Vorstellung. Außerdem: Wenn man einen Begriff wie »Vernichtungskrieg« verwendet für das, was aktuell im Ukrainekrieg passiert, dann ist das eine Relativierung und Verharmlosung des deutschen Vernichtungskrieges von 1941 bis 1944. Das ist genauso zu kritisieren, wie wenn etwa ein Gegner der Corona-Maßnahmen sich einen Judenstern mit der Aufschrift »ungeimpft« auf die Jacke klebt und damit verharmlost, was mit dem Judenstern verbunden war. Das ist schon Teil politischer Propaganda, indem man die eigenen Verbrechen verkleinert dadurch, dass man sie mit anderen Verbrechen vergleicht, die aber bei weitem nicht die Dimension oder Intensität aufweisen.

Wie kommt man aus einer Situation wie der jetzigen raus? Wie müsste sich, im Hinblick auf kommende Krisen oder mögliche Eskalationsherde, die Politik verhalten?


So war es schon immer im Krieg: Rein kommt man schnell, raus aber ganz schwer. Ein paar Sachen kann man, glaube ich, als sicher feststellen, über andere kann man nur Vermutungen äußern: Sicher ist, dass durch die Anwendung von Waffengewalt, wie wir es zurzeit erleben, eine Revitalisierung der ukrainischen Nation stattgefunden hat. Man kann auch sehen, dass der Hass der Bedrohten auf die Angreifer massiv angestiegen, und dass eine dauerhafte Entfremdung von Russland und der Ukraine eingetreten ist. Das ist genau das Gegenteil von dem, was sich die russische Führungsspitze – nach allem, was ich weiß – erhofft hat. Und das sind alles – jenseits des Waffenhandwerks – langfristig wirksame, negative Erscheinungen, die alle Anstrengungen, Frieden wieder herzustellen, schwieriger machen.
Wenn es zu einer Block-Konfrontation kommen sollte, die militärisch abgestützt ist, wird es darauf hinauslaufen, dass die mit dem Krieg produzierte Verfeindung von Russland und der Ukraine mittelfristigen Bestand hat. Zurzeit ist es schwer vorstellbar, wie die beiden Kontrahenten eine Brücke zueinander finden sollen. Das Konzept »Ernstfall Frieden« bleibt jedoch in Kraft, auch wenn das erforderliche Vertrauen erst ganz allmählich wieder aufzubauen ist. Alles andere verfestigt den Kriegszustand, der weit über die Ukraine hinausgehen kann.

Wagen Sie einen Blick in die Zukunft?


Wie auch immer dieser Krieg ausgehen mag, so steht doch eines fest: Russland bleibt der große, indirekte Nachbar Deutschlands auf dem europäischen Kontinent.
Wir stehen vor der Alternative: Entweder ein neuer Kalter Krieg mit Waffengeklirr, Aufrüstung, Feindbildern, dem Kappen aller Beziehungen, die seit dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere seit der Entspannungspolitik der 1970er-Jahre mühevoll geknüpft worden sind. Mit anderen Worten: ständige Kriegsgefahr.
Oder wir gehen auf die Suche nach einer neuen Koexistenz bei Anerkennung der Unterschiede – mit der Vision einer Wiederanknüpfung an die Idee vom »Gemeinsamen Haus Europa«.

Grafiken:
Fotoserie »gone«: Christoph Ranzinger
Portrait (S.2): Tim Brakemeier/dpa, mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Verantwortlich:
Dr. Matthias Pfeufer (im Auftrag des Kath. Schulkommissariats Bayern), Poxdorf 24, 96167 Königsfeld;
Siegfried Kratzer, (im Auftrag des Evang.-Luth. Landeskirchenamtes Bayern)  Pfälzer Straße 7a, 92224 Amberg;       Gestaltung: Christoph Ranzinger, Pauckerweg 5, 81245 München.