Christoph U. Schminck-Gustavus
„Helfen verboten“ ?
Unter dem Titel „Die Ordnung der Bedrängten“ hat Harald Poelchau (1903-1972) seine Erinnerungen festgehalten. Als Anstaltsgeistlicher in Berlin-Tegel betreute er dort von 1933 bis 1945 unzählige Gefangene. Auch mehr als tausend in den Jahren des NS-Terrors zum Tode Verurteilte hat er in ihrer - zuweilen monatelang dauernden - Erwartung der Vollstreckung und in ihrer letzten Nacht auf dem Weg zur Hinrichtung begleitet.
Poelchaus Weg zur Gefangenenseelsorge war ihm nicht in die Wiege gelegt, und er hat später sein eigenes Tun niemals in den Vordergrund gerückt. So ist auch nur recht wenig über seine Jugend, Adoleszenz und sein Studium bekannt. Im engen Freundeskreis hat er wohl berichtet, dass er als Kind den Kirchturm in Brauchitschdorf regelmäßig bestiegen hat, um von dort aus das Dorf seiner Kindheit heimlich zu beobachten. Als 19jähriger ist er nach dem Abitur dann über die Alpen nach Genua gewandert und von dort aus weiter bis Rom gekommen. Auf dieser langen Wanderung wird er auch die Machtergreifung Mussolinis und den Siegeszug der italienischen Faschisten erlebt haben.
Er und seine Frau Dorothee hielten in den späteren Jahren des justiziellen Massenmords nicht nur Kontakt zu den Angehörigen der Verurteilten, sondern auch zu zahlreichen versteckten Juden, die sie unter falschem Namen bei Vertrauenspersonen unterbrachten; sie besorgten ihnen dabei nicht nur Unterkunft, sondern auch Verpflegung. Bei Poelchaus zahlreichen Telefonaten mit Untergetauchten, die abgehört werden konnten, benutzte er den Decknamen „Tegel“, also den Namen der Berliner Haftanstalt, wo sich sein Dienstzimmer befand. Wo auch immer er telefonierte, war dieser Deckname daher eine zusätzliche Sicherung vor möglicher Abhörung.
Bedenkt man den Terror des NS-Alltags, so wundert man sich, wie er überhaupt in diese Stellung gelangen konnte. Er selber beschreibt es in seinen Erinnerungen: [1]
„Mit 29 Jahren sehr jung für diese Aufgabe, kam ich 1933 in das Gefängnis Berlin-Tegel, eine Anstalt mit drei Häusern zu je 600 Plätzen. Mir fiel das Haus III zu. Ich hatte dort ein eigenes schmales Zimmer zwischen dem des Vorstehers und dem Wartezimmer der Besucher. So ware ich, auch für die Angehörigen, leicht errreichbar. Ein Telephon eroberte ich mir erst im Laufe der ersten Jahre. Wir hätten auch eine Dienstwohnung bekommen können, billig und mit den Vergünstigungen der nahen Gefängniswerkstätten. Meine Frau aber hatte Bedenken, sich in diese allzu nahe Nachbarschaft der Beamten zu begeben, und ihr Instinkt erwies sich später als richtig, als eine große Zahl von Angehörigen meiner Gefangenen heimlich zu mir in die Wohnung kam. Ein ganz wichtiger Bestandteil meines Gefängnislebens war der kleine Dienstgarten zwischen den beiden Gefängnismauern, geschützt vor den Blicken und den Winden. Er war mit seinem großen Apfelbaum, der Himbeerhecke und den vielen Blumen ein kleines Paradies, nicht nur für mich, sondern auch für manche Gäste nach den Besuchen bei den leidenden Gefangenen.“[2]
Poelchau hatte sich schon 1934 der Bekennenden Kirche angeschlossen und trat 1941 auch Moltkes Kreisauer Kreis bei.[3] Dies blieb der Gestapo jedoch verborgen, so dass er nach dem 20. Juli 1944 noch mehreren der inhaftierten Verschwörer Trost spenden und Kassiber an ihre Angehörigen transportieren konnte.
80 Jahre später: Die Pforte zur Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel 2018
Poelchaus Weg zur Gefangenenseelsorge
Dass er und seine Frau nicht nur Inhaftierten und Todeskandidaten beistanden, sondern auch auch außerhalb der Anstalten Juden mit falschen Identitäten ausgestattet und versteckt haben, blieb bis zum Ende des NS-Regimes unentdeckt. Ruth Andreas-Friedrich, die ebenfalls Versteckten und Juden geholfen hat, beschreibt in ihrem Tagebuch eine Begegnung mit Poelchau am 1. Oktober 1943, in der es um die Versorgung von Untergetauchten ging:[4]
„Doktor Tegel ist Gefängnispfarrer. Sein ‚Laden‘, wie er sich auszudrücken pflegt, liegt hinter vergitterten Fenstern und verriegelten Türen. Er begrüßt uns, als wären wir alte Bekannte: ‚Drei Milchkarten können wir in diesem Monat abgeben, Marken für fünf Brote und vielleicht etwas Fett. Wissen Sie eine Stellung für ein jüdisches Waisenmädchen? Sie hat Laborantin glernt, versteht sich aber auf den Haushalt. Auch ein geflüchteter Schlosser ist unterzubringen.‘ Nach 10 Minuten des Zusammenseins sind wir mitten in der Arbeit. Marken austauschen, Ausweise entwerfen, Wohnmöglichkeiten prüfen, Stellen besetzen. Es bedarf keiner Umschweife. Wer spürt, dass er mit den anderen am gleichen Strang zieht, versteht sich auch ohne Erläuterungen. Doktor Tegel gehört zu uns. Und es wird uns eine Ehre sein, wenn wir uns rühmen dürfen, zu ihm zu gehören.“
Auch Poelchau beschreibt seinen Alltag im Bombenkrieg. Zum Beispiel wie er sich nach einem schweren Bombenangriff bemühte, auf dem Fahrrad keuchend durch die Trümmerlandschaft zum weit entfernten Friedhof in Berlin-Zehlendorf zu fahren, um zwei Bombenopfer - eine Jüdin und eine als Halbjüdin versteckte junge Frauen - dort würdig beizusetzen: Eine der Getöteten war enge Freundin eines von Poelchau heimlich betreuten Schutzbefohlenen. Er schreibt:[5]
„Es ist wohl zu verstehen, dass ich zu diesem Begräbnis mit allen Mitteln pünktlich sein wollte. Zwei Minuten nach 13 Uhr kam ich, schweißgebadet in Zehlendorf auf dem Friedhof an. Die anderen, die näher wohnten, waren alle pünktlich gekommen und schon sehr unruhig, weil ich mich verspätet hatte. Ringsum gingen noch immer Blindgänger los mit lautem Knall; die Rauchschwaden zogen von fern her über uns hin, vereinzelte Flugzeuge waren noch zu sehen, Vorfrühlingswind blies über den Friedhof und die paar Menschen, die da versammelt waren - die paar? Es war eine ganze Menge, denn die Besenmädchen, also die zum Straßenfegen verpflichteten halbjüdischen Mädchen, sie hatten sich alle eingefunden und nahmen still Anteil an dem Schicksal dieser beiden Bombenopfer. Auch die Kriminalpolizei war vertreten, denn die eine Tote, die Jüdin, war ja bis jetzt nicht identifiziert worden. Es war ein christliches Begräbnis, was ich ihnen hielt, und alle, ob Juden oder Christen, waren damit einverstanden, denn in diesen Tagen des Untergangs und der Unsicherheit waren konfessionelle Unterschiede unwichtig. Wichtig aber blieb das Gesetz der Menschlichkeit und der Liebe.“
Einmal in Tegel als Anstaltsgeistlicher eingestellt, wäre es für ihn unmöglich gewesen, sich wieder zurückzuziehen, denn ein Ersatz- oder Stellvertreter wäre nicht berufen worden; auch die unzähligen Todeskandidaten hätten dann keinen seelischen Beistand gehabt. Wie Poelchau es dennoch aushalten konnte, so viele Menschen auf ihrem letzten Weg zu begleiten, hat sich auch Ruth Andreas-Friedrich gefragt. Als todesmutige Widerstandskämpferin hatte auch sie beim Verstecken von Juden und Gesuchten täglich ihr Leben riskiert. Sie schreibt über Poelchau in der Rückschau:[6]
„Doktor Tegel sieht ernst und angegriffen aus. Fast jeden Tag einen Menschen, den man schätzt und liebt, zum Schafott begleiten zu müssen, ist mehr als ein Einzelner ertragen kann. Dass er es trägt, dass er darüber nicht den Verstand verliert, sondern jede freie Minute benutzt, um die Frauen der Verurteilten zu betreuen, den Verbindungsdienst zwischen ihnen und den gefangenen Männern herzustellen, Untergetauchten zu helfen, Verfolgte unter seinen Schutz zu nehmen, das ist das, was uns zu diesem Mann fast wie zu einem Heiligen aufblicken lässt.“
Gefangenenfürsorge und Abhörgefahr
In Tegel konnte sich Poelchau auch von manchen - mit falschem Namen - Untergetauchten in seinem Sprechzimmer besuchen lassen. Er schreibt:[7]
„Mein Sprechzimmer lag etwa 300 Meter von der Pforte entfernt in einem Innengebäude des großen Komplexes, also völlig gesichert durch verschlossene Türen und Gitter. Besser konnte man es sich nicht wünschen.“
Die Sicherheit vor Abhörung und vor Spitzeln war also die Besonderheit von Poelchaus Büro und des Gefängnis-„Paradiesgärtchens“; er beschreibt es später so:[8]
„Auch ich ging oft aus den dunklen Zellen für eine kurze Mittagspause in die Sonne des Gartens. Man hatte das Recht für die Arbeiten Gefangene zu bestellen; dadurch konnte ich auch manchem, der es nötig hatte, solche Stunden des Ausruhens in der Sonne verschaffen. Und draußen sprach sich mancher leichter aus als in der Zelle.“
Die Gefangenenbetreuung in Tegel, die Poelchau seit dem 1. Juni 1933 hauptamtlich übernommen hatte, bedeutete aber auch für ihn eine schwere Belastung, denn als er sich vor der „Machtergreifung“ im Februar 1932 auf die Stelle beworben hatte, war der spätere NS-Terror durch die Justiz noch nicht vorstellbar gewesen.
Poelchau war eigentlich als evangelischer Theologe ausgebildet und hatte bei Paul Tillich, dem berühmten Herausgeber der „Neuen Blätter für religiösen Sozialismus“, mit einer Arbeit über „Die sozialphilosophischen Grundlagen der deutschen Wohlfahrtsgesetzgbung“ promoviert und 1932 eine Arbeit zum „Menschenbild des Fürsorgerechts“ (Potsdam 1932) veröffentlicht. Aufgrund dieser Arbeiten konnte er sich auf eine Stelle zur Gefangenenbetreuung bewerben, so dass er als erster während des NS-Regimes berufener Strafanstaltspfarrer seine Tätigkeit begonnen hat.
Mit bitterer Ironie berichtete er 1948 - also 3 Jahre nach dem Sturz des Terrorregimes - über seinen Dienstantritt: Seinerzeit hätten immer noch Bilder des bereits 1925 verstorbenen Reichspräsidenten Friedrich Ebert an den Wänden der Anstaltsleitung gehangen; als diese durch Hitler-Bilder ersetzt werden mussten, habe er ein Foto gewählt mit der Unterschrift: „Der Führer raucht nicht, der Führer trinkt nicht, der Führer arbeitet von früh bis spät für das Wohl des deutschen Volkes. Machen wir ihm nach, was wir ihm nachmachen können!“[9]
Fürsorge und Seelsorge waren Poelchaus wichtigste Aufgaben im Strafvollzug: Durch seine Examina vorgebildet, kannte er die zuständigen Ämter und Stellen - etwa wenn Eheverhältnisse von Inhaftierten zu regeln waren, Eigentum sicherzustellen, Kinder unterzubringen oder für die Entlassenen Kleidung, Unterkunft oder Arbeit zu beschaffen war. [10] Aber alles dies war ihm sicher nicht das Wichtigste an seiner Arbeit. Die mehrere Monate lange Betreuung der immer zahlreicher zum Tode verurteilten Menschen bis zu ihrer Hinrichtung war die schwerste seiner Aufgaben. Als Strafanstaltspfarrer war Poelchau aber kein Kirchen-, sondern ein Justizbeamter, was ihn in späteren Konfliktsfällen geschützt hat. [11]
„Zehn Minuten nach Plötzensee“
Die Hinrichtungen selbst fanden nicht in Tegel, sondern regelmäßig in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Plötzensee statt. Beide Anlagen sind heute immer noch für den Strafvollzug in Betrieb. Der Raum mit der Galgenschiene ist dort als Gedenkstätte ausgestaltet; nur die Guillotine, die früher im hinteren Teil des Raumes stand, wurde entfernt und eingelagert.[12]
Das riesige Ausmaß der in der NS-Zeit gefällten Todesurteile erhöht sich ins Unvorstellbare, wenn man bedenkt, dass der Gerichtsweg für Juden und Polen in den Kriegsjahren ohnehin ausgeschlossen war, so dass SS und Gestapo ihre Morde - etwa wegen „Rassenschande“ oder „Plünderung“ oder für beliebige andere „Verbrechen“- ohne jedes Gerichtsurteil vollstreckten.
Die Todesstrafe – „Ein Verbrechen wie jeder Mord“
Poelchau hat sich schon lange vor Beginn seiner Tätigkeit in Tegel mit der Todesstrafe in der Antike und in germanischer Zeit beschäftigt. Sein Interpretationen hierzu knüpfen an eine Untersuchung des Kriminologen Hans von Hentig (1887-1947) an, der die Todesstrafe als ursprüngliche Opferhandlung zur Versöhnung der erzürnten Götter interpretiert. Nach Hentig wird der Täter den Göttern geopfert, weil er durch seine Handlung - z.B. den Vatermord - die göttliche Ordnung gefährdet hat. Je nach der beleidigten Gottheit ändert sich die Strafe: Rädern für den Sonnengott oder das An-der-Esche-dem-Odin-in-den-Wind-hängen, woraus die noch heute übliche Form des Erhängens am Galgen hervorgegangen sein soll. Nicht der Täter steht hiernach im Mittelpunkt, sondern die göttliche Ordnung.
Dass in der Neuzeit die Todesstrafe weiter Gültigkeit haben soll, obwohl kein Herrscher „Von Gottes Gnaden“ mehr vorhanden ist, erklärt Poelchau für widersinnig; dass nach 1933 die Todesstrafe nicht mehr nur für Mord, sondern für eine Fülle anderer Taten verhängt wird, erscheint ihm besonders unerträglich. Er selber hat bei der ersten Hinrichtung, der er beiwohnen musste, eine Enthauptung mit dem Handbeil miterleben müssen. Dass er dagegen protestierte, weil er den hingerichteten Täter vorher gar nicht betreut hatte, reichte nicht aus, ihm das zu ersparen. Obwohl ihm bei dieser Ermordung schlecht geworden war, ist er anschließend noch zu der Mutter des Hingerichteten gefahren, um ihr die Todesnachricht zu überbringen, wozu ihn der Getötete gebeten hatte. Die Mutter versuchte nach dieser Nachricht, sich aus dem Fenster zu stürzen, was Poelchau nur mühsam verhindern konnte.[13]
Da nach der „Machtergreifung“ die Enthauptungen zu zahlreich geworden waren und die bislang übliche Vollstreckung mit dem Handbeil im Hof vor den Zellen der Todeskandidaten zu lange gedauert hätte, wurde die Vollstreckung mechanisiert und Guillotinen angeschafft: Zwanzig Fallbeilmaschienen sind in der Schlosserei von Tegel durch Häftlinge bereits Ende 1933 hergestellt und in den Strafanstalten des Reichs verteilt worden. Gleichzeitig wurde die Todesstrafe neben dem Verbrechen des Mordes für alle möglichen weiteren Delikte angeordnet.
Bis Kriegsbeginn waren es bereits 12 Gesetze und Verordnungen und nach Kriegsbeginn wurden 15 weitere Gesetze erlassen, die die Todesstrafe vorsahen, so dass es nicht verwundert, dass Poelchau an mehr als Tausend Justizmorden in Plötzensee und anderen Hinrichtungsstätten - wie etwa im Zuchthaus Brandenburg - zugegen war. Poelchau schreibt über seine Zeit in Tegel: [14]
„Immer wenn der Dienstag oder der Freitag kam, nahmen die Verurteilten den Tod in Erwartung des Kommenden schon einmal vorweg. Zur bestimmten Stunde, der außergewöhnlichen und schon bang erwarteten Stunde, kamen die Schritte, das Schlüsselbund rasselte, das Schloss drehte sich draußen, die Tür wurde aufgerissen und der Tod griff ein. Der Beamte rief einen Namen, man hörte: ‚Fertigmachen! Alles liegen lassen! Mitkommen!‘“
Als Anstaltsgeistlicher wurde Poelchau von der Leitung auch immer einen Tag früher über bevorstehende Hinrichtungen informiert, so dass er den Todeskandidaten in der letzten Nacht beistehen und heimlich auch Abschiedsbriefe in Empfang nehmen konnte. Diese hat er dann den Adressaten übergeben, ohne dass sie von der Zensur kontrolliert wurden. Selbst Papier und Schreibgerät war den Todeskandidaten vorenthalten worden, so dass Poelchau Papier und Stifte mitbringen musste. Auch waren die Abschiedsbriefe mit Handfesseln zu schreiben.
Wie er es aushalten konnte, an all diesen Justizmorden teilzunehmen, ist auch Henry James Graf von Moltke ein Rätsel geblieben. Poelchau kannte ihn schon aus dem Kreisauer Kreis und hat ihn später vor seiner Ermordung in Tegel ebenfalls begleitet. Moltke schreibt in einem von Poelchau kassiberten Brief an seine Frau Freya:[15]
„Wie ein Mann, der Woche um Woche vielen Hinrichtungen beiwohnt, seine seelische Eindrucksfähigkeit und seine Nerven behalten und dann nocht gut gelaunt sein kann, ist mir ein Rätsel“
Hinrichtungsschuppen in der Gedenkstätte Plötzensee 2018; hinter der Mauer mit der Stacheldrahtabsperrung befindet sich noch heute die Justizvollzugsanstalt Plötzensee
Letzte Nacht in Plötzensee
Über die letzten Nächte in Plötzensee sprach Poelchau auch mit Henry James Graf von Moltke, der seiner Frau Freya drüber in einem Kassiber berichtete:[16]
„Er [Poelchau] sitzt dann von 7 Uhr abends bis 5 Uhr morgens bei ihnen. Ich habe mir diese Nacht von ihm beschreiben lassen. Sie ist grauenvoll, aber doch irgendwie erhaben. Er sagte auch, dass kein Mensch so vorbereitet in den Tod gehe wie diese Leute, und sagte, dass in den 8 Jahren seiner Praxis noch keiner nicht ruhig zum Schafott gegangen wäre. Welch eine Leistung eine solche Nacht bedeutet! Es ist grauenhaft und schrecklich, aber es wirft doch auch Fragen auf, die in dieser Unbedingtheit, Nacktheit und Absolutheit sonst nicht auftreten. Er bietet nie das Abendmahl an, aber die Hälfte der von ihm Betreuten verlangen es aus eigenem Antrieb.“
Auch Poelchau selber beschreibt die Mordmaschinerie in allen Einzelheiten:[17]
„In Plötzensee stand die Guillotine in einem besonderen Hinrichtungsschuppen. Er befand sich auf dem Spazierhof des Gefängnisses III. Der Schuppen war ein fensterloser Raum, etwa acht mal zehn Meter groß, aus Ziegelmauern und mit Zementfußboden. Von ihm führte eine Tür in den Leichenraum, der das Gebäude abschloss. In diesem Raum stapelte man die Holzkisten für die Leichen der Hingerichteten. Hierhin wurden auch rasch die Leichen geschafft, wenn eine Reihe von Enthauptungen nacheinander zu erfolgen hatte.
Ein schwarzer Vorhang der durch eine Ziehvorrichtung sehr schnell aufgerissen und wieder geschlossen werden konnte, teilte den Hinrichtungsschuppen in zwei Teile. In dem hinteren kleineren Raum hatte man die Guillotine aufgestellt, die so zunächst den Blicken entzogen war. Im vorderen größeren Raum stand der Richtertisch mit dem Kruzifix. Das Kruzifix mußte in den späteren Jahren entfernt werden.“
Vorbereitungen
„Wenn der Tag der Hinrichtung feststand, wurde der zum Tode Verurteilte am Tage vorher oder auch schon einige Tage früher in eine Sonderzelle verlegt - in die Todeszelle. In Plötzensee und Brandenburg waren im Erdgeschoss besondere Zellen zu Todeszellen bestimmt und eingerichtet. Die Verlegung in eine dieser Zellen machte es dem Verurteilten schon vor der Vollstreckungsmitteilung klar, dass seine Stunde geschlagen hatte.
Die Todeszellen im Gefängnis Plötzensee waren klein und kalt, weil man die Heizkörper herausgenommen und in die Innenwand eingebaut hatte. Das sollte den Anreiz zum Selbstmord nehmen. Ein solcher Versuch war schon vorgekommen. Ein Gefangener hatte in seiner letzten Nacht vergeblich versucht, sich den Schädel am Heizkörper einzuschlagen. Nun spendete die eingebaute Heizung kaum noch Wärme.
Die Beleuchtung war schwach. Die Lampe war in dem Ventilationsloch über der Tür angebracht und erhellte den kleinen Raum nur dürftig. Die Schaltung erfolgte von außen. Das Licht musste über die ganze Nacht brennen, damit man die selbstmordgefährdeten Gefangenen stets beobachten konnte. Bis zum letzten Augenblick war die Justiz ängstlich um die Lebenssicherheit ihrer Opfer bemüht.
Die Ablehnung des Gnadengesuchs und den Beschluss des Gerichts mit dem genauen Zeitpunkt der Urteilsvollstreckung erhielt der Verurteilte am letzten Abend oder früh am Morgen des Todestages. Das geschah in offizieller Form durch einen Vertreter der Staatsanwaltschaft oder bei militärisch Verurteilten durch einen Militärbeamten im Offiziersrang. Der Vertreter des Gerichtsherrn blieb von der Verkündung an im Hause, um anwesend zu sein, falls irgendwelche Wiederaufnahmeanträge eingereicht würden.
Auch ich als Geistlicher war bei dieser Mitteilung meist zugegen. Von nun an durfte der Verurteilte keine Sekunde mehr allein gelassen werden. Er blieb unter der Aufsicht von zwei Wachleuten - oder was ich allmählich durchsetzen konnte - allein mit mir. Seine Hände wurden vorne gefesselt. Die Fesseln durften in der Regel nur beim Waschen, Aniehen unmd zum Essen abgenommen werden.
Als ein altes Gewohnheitsrecht des Delinquenten galt die Henkersmahlzeit. Der Gefangene hatte das Recht, sich noch einmal, das letzte Mal in seinem Leben, eine Speise nach seinem Geschmack auszuwählen. Allerdings wurde dieses Recht mit der Verknappung der Lebensmittel von Kriegsbeginn an immer mehr eingeschränkt und entfiel schließlich ganz. In den ersten Jahren gab es noch warmes Essen, auf Wunsch auch gebratenes Fleisch. Später erhielten die Insassen der Todeszellen nur noch Brot mit Wurst, zusätzlich zu der an jedem Tag ausgegebenen Mahlzeit. Kaffee und Bier wurden geduldet, besonders in den Sommermonaten. Sogar zu rauchen gab es in Tegel und Plötzensee.“
Letzte Station: Vorderseite der Haftanstalt Lehrter Straße im Jahr 2018
Die letzten Stunden
„In der letzten halben Stunde vor der Vollstreckung entfaltete in Plötzensee gewöhnlich ein alter Schuster eine eifrige Tätigkeit. Er suchte die Verurteilten in ihren Todeszellen auf, fesselte ihnen die Hände auf dem Rücken, zog ihnen Kleider und Schuhe aus und vertauschte die Schuhe mit den vorgeschriebenen Holzpantoffeln. Den Frauen schnitt er die Haare so kurz, dass der Hals freigelegt wurde. Er tat es mit Gleichmut, ohne Gemütsbewegung und mit einer gewissen stumpfsinnigen Befriedigung.
Hin und Wieder suchten auch der Scharfrichter und seine Gehilfen die Todeskandidaten in ihren Zellen auf: Sie schauten den Verurteilten in den Mund nach Goldzähnen, die man später ausbrechen konnte. Der gefesselte Verurteilte wurde mit entblößtem Oberkörper in den Hinrichtungsschuppen geführt. Nach der Verlesung des Urteils in Gegenwart der üblichen Zeugen, wandte sich der Staatsanwalt an den Scharfrichter mit der feststehenden Formel: ‚Scharfrichter walten Sie Ihres Amtes!‘
Nun erst riß der Scharfrichter mit einem Ruck den schwarzen Vorhang auf. Niemals werde ich dieses knirschende Geräusch vergessen können. Jetzt wurde die Guillotine im Schein des elektrischen Lichtes sichtbar.
Der Verurteilte hatte sich an ein hochgeklapptes, am Kopfende ausgekehltes Brett zu stellen. Ehe er sich besinnen konnte, warfen ihn die Henkersknechte auf das Brett, das an einem Scharnier befestigt war und um 90 Grad umschlug. Der Verurteilte kam mit dem umgeklappten Brett blitzschnell in eine Lage, in der sich sein Hals genau unter dem Fallbeil befand. In derselben Sekunde drückte der Scharfrichter auf den Knopf. Das Fallbeil sauste herab, der Kopf des Verurteilten flog in einen bereitgestellten Weidenkorb. Der Scharfrichter zog nun, mit der gleichen Hast, den schwarzen Vorhang vor dem furchtbaren Bild zu. Wieder der knirschen Laut. In strammer militärischer Haltung meldete der Scharfrichter: ‚Herr Oberstaatsanwalt, das Urteil ist vollstreckt!‘
Der Gesamtvorgang vollzog sich in unglaublicher Geschwindigkeit. Durch den Überrraschungscharakter der ganzen Manipulation für den Verurteilten sollte die Zeitvergeudung des sonst nötigen Anbindens und anderer Sicherheitsmaßnahmen erspart werden.
Die Zeit von der ersten bis zur zweiten Hinrichtung war auf drei Minuten angesetzt worden, aber die Hinrichtungen beanspruchten längst nicht die vorgesehenen drei Minuten, sondern nur elf bis dreizehn Sekunden für einen geschickten Scharfrichter und eingeübte Henkersknechte.“
Die Galgenschiene
Nachdem durch einen Bombenangriff die Guillotine beschädigt worden war, wurde für das Mordgeschehen eine weitere Vorgehensweise eingerichtet. In seiner 1949 erschienenen Schrift „Die letzten Stunden“ beschreibt Poelchau die weiteren Einzelheiten der Hinrichtungen von Plötzensee:[18]
„Mitte Dezember 1942 hatte das Justizministerium den Auftrag gegeben, eine ‚gleichzeitige Erhängungsmöglichkeit für acht Personen‘ im Hinrichtungsschuppen von Plötzensee einzurichten. Mit außerordentlicher Eile wurde diese Arbeit als ‚kriegswichtig‘ und ‚vordringlich‘ in Angriff genommen. Es musste eine Laufschiene angebracht werden, an der sich acht Haken befanden. Sie waren durch eine aus schwarzem Papier gefertigte Wand jeweils voneinander getrennt, um die Hinzurichtenden zu isolieren. Immer acht Mann zur gleichen Zeit mussten sich auf die Schemel stellen. Die am Haken befestigte Schlinge wurde ihnen um den Hals gelegt und der Schemel unter ihnen weggerissen. Die Prozedur des Erhängens habe ich nie mit angesehen, da sie sich im geschlossenen Raum abspielte. Ich durfte die Verurteilten immer nur bis zum Schuppen begleiten. Der Arzt versicherte, der Erhängte verliere sehr rasch das Bewusstsein, sobald die Blutzirkulation abgedrosselt sei, der Tod trete durch Bruch des Halswirbels ein. Es dauerte aber viel länger als bei der Guillotine. Die Vorschrift lautete, den Erhängten frühestens nach zwanzig Minuten wieder abzunehmen, vorher dürfe man mit dem sicheren Eintreten des Todes nicht rechnen.“
Poelchau berichtet auch von Filmaufnahmen bei seiner letzten Aussprache mit Peter Graf Yorck von Wartenburg, der ebenfalls zum Kreisauer Kreis gehörte und deshalb zum Tode verurteilt worden war. Bei ihrem Abschied habe Yorck Poelchau nur seine gefesselte Rechte reichen können, denn die Handschellen seien ihm nicht abgenommen worden:[19]
„Unsere letzte Aussprache wurde gewaltsam unterbrochen. Uniformierte SS-Männer, mit Scheinwerfern und Filmkameras ausgerüstet, drangen laut in die Zelle ein und filmten ihn ebenso wie die anderen Gefangenen, ehe sie zur Hinrichtung geschleppt wurden. Der Film, im Auftrag des Reichsfilmintendanten gedreht, sollte den gesamten Prozess in all seinen Phasen ausführlich und in allen Einzelheiten bis zuletzt zeigen: von der Verhandlung vor dem Volksgerichtshof bis zu den letzten Zuckungen der Opfer am Galgen.“
Die Abschiedsbriefe
Poelschau schreibt: [20] „Ich musste mich vor allem um die Abschiedsbriefe kümmern. Primitive Menschen konnten sich oft in ihrer starken Aufregung nicht mehr geistig konzentrieren. Ich musste daher häufig ihre Briefe diktieren. Selbstverständlich bemühte ich mich, das auszudrücken, was der Schreiber noch sagen wollte, aber nicht mehr sagen konnte. In Plötzensee durften die Fesseln beim Schreiben der Briefe abgenommen werden. Auch Tinte und Feder waren gestattet. In Brandenburg dagegen durften die Briefe nur gefesselt und mit Bleistift geschrieben werden.
Die Anwesenheit der Gefängnisbeamten wurde von den Verurteilten verschieden aufgenommen. Diese Beamten waren keinesfalls böswillig oder brutal. Es handelte sich meist um altgediente Unteroffiziere, die selbst erschüttert waren - besonders in den ersten Jahren, als es noch selten Todesurteile gab, - und die nun ihre Nervosität auf den Gefangenen übertrugen. Sie pflegten, um ihre Unruhe zu beatäuben, ununterbrochen, oft mit lauter Stimme, von ihren Kriegserlebnissen und anderen derben Abenteuern zu erzählen. Unter den wegen krimineller Vergehen Verurteilten beobachtete ich Leute, die gern auf einen derartigen Ton eingingen, die sogar bewußt mit Gesprächen sensationeller Art über die Nacht hinwegkommen wollten. Stumpfe oder Erschöpfte warfen sich wohl auch auf die Pritsche und schliefen einige Stunden, scheinbar ungerührt vom nahen Tod. Wir ließen sie schlafen, es war für sie der leichteste Weg.“
Schweigen
„Aber die geistigeren Menschen empfanden die Gegenwart der Beamten als lästig. Ich meine nicht nur gebildete, besonders differenzierte Gefangene, sondern auch Menschen einfacher Art. Sie wünschten, schweigen zu können und jemandem gegenüber zu sitzen, der sie nicht ständig zur Unterhaltung zwang. Sie waren dankbar, wenn es gelang, die Beamten zu entfernen und die letzte Nacht mit mir allein zu verbringn. Es gab Menschen, die kaum ein Wort sprachen und in tiefe Gedanken versanken. Es gab andere, die mir ihre persönlichen Geheimnisse anvertrauten. Sie taten in diesen Stunden ihre Seele auf, ihren Reichtum an Liebe, Schmerz und Enttäuschungen. Sie ließen mich teilhaben an ihrem Lebensweg. Sie wußten, dass sie mir vertrauen durften. Hier lag meine wahre Aufgabe. Denn kaum jemand wird mit gleicher Verschwiegenheit und Offenheit die Beichte eines Menschen entgegennehmen wie ein Seelsorger. Mancher Gefangener fand in solchen Nachtstunden die Gelassenheit für den letzten Gang.“
Eheleute und Angehörige
„Wenn Todesurteile von Ehepaaren zur Vollstreckung kamen - und dies ist 1944 allein fünfzehnmal und 1943 vierzehnmal vorgekommen - wurde die Bitte der Eheleute, einander noch einmal sehen zu dürfen, regelmäßig abgelehnt. Es blieb mir nichts anderes übrig, als Grüße und Briefe zu überbringen und auf diese Weise noch eine gewisse Verbindung herzustellen.
Auch der Wunsch des Verurteilten, nach Verkündigung seines Vollstreckungstermins seine Angehörigen vor dem Tode noch einmal zu sehen, verfiel der Ablehnung. Ich konnte das bis zu einem gewissen Grade verstehen. Schon der Verurteilte vermochte den unnatürlichen Zustand, den Augenblick seines Todes im Voraus genau zu wissen, kaum zu ertragen. Die Angehörigen wären dem seelischen Druck in keinem Fall gewachsen gewesen. Anders lag es, wenn mir und der Anstaltsleitung der Zeitpunkt des Todes bereits bekannt war, dem Verurteilten aber noch nicht. In solchen Fällen habe ich mich bemüht, eine Begegnung zwischen ihm und den Seinen noch rasch zustande kommen zu lassen.“
Letzter Morgen
„Die Nacht verging. Und wenn der Morgen in der Todeszelle graute, kam die Krise für den Gefangenen. Niemand wurde von ihr verschont. Gewöhnlich drang dann in das Schweigen oder in das halblaut geführte Gespräch plötzlich der Amselruf von draußen herein, ein Warnruf, weil auf dem Hof besonders viel gegangen wurde. Der Gefangene zuckte zusammen und fragte: ‚Wie spät ist es? Wieviel Zeit habe ich noch?‘ Ich musste ihm dann die Armbanduhr zeigen. Ich hielt sie ihm vor die Augen. Worte nutzten nichts, denn jeder Gefangene glaubte, ich wolle ihn schonen.
Es galt nun, in den letzten zwei Stunden alle Kräfte zusammenzunehmen. Die beiden Beamten - wenn ich mich nicht mit dem Gefangenen alleine befand - waren meist in der Morgendämmerung erschöpft und abgefallen. Die Abschiedsbriefe mussten um diese Zeit fertig geschrieben sein. Der Gefangene hatte nicht mehr die Nerven dazu. Ich versuchte noch, mit kleinen Mitteln zu helfen. Zigaretten wurden bis zuletzt gewünscht; ich hatte sie stets vorrätig, wenn die amtlich ausgegebenen Zigaretten längst verbraucht waren. Und dann hatte ich Wein von meinem Abendmahlswein zur Verfügung. Es war eigentümlich, wie gerade solche scheinbaren Nebensächlichkeiten die geistige und körperliche Haltung des Verurteilten strafften.“
Die Todeszellen im 4. Stock von Haus III der Justizvollzugsanstalt Berlin Tegel 2018 vor ihrem Abriss; ihre Fenster waren nach 1945 vergrößert worden; die Zelle von Dietrich Bonhoeffer war im 4. Stock die fünfte von links
Die Nachbarzellen
„In den ersten Jahren, als Hinrichtungen noch nicht zum alltäglichen oder allnächtlichen Ereignis gehörten, nahm eine Vollstreckung die Nachbarzellen, ja das ganze Gefängnis seelisch stark in Anspruch. Es kam darauf an, in der Nacht möglichst leise zu sein, um die Genossen in den Nebenzellen nicht zu beunruhigen.
Man möge sich den riesigen Bau des Gefängnisses vorstellen, in dem sechsundert Menschen in halberleuchteten Zellen nachts schlafen sollten. Das hatte etwas Unheimliches und Triebhaftes wie ein großes Tier, das im unruhigen Halbschlaf zusammengeduckt liegt. Es war nicht so, als herrsche dort Totenstille, sondern man spürte, wie hinter jeder der verriegelten Eisentüren ein Mensch mit aller Inbrunst um sein Leben und sein Recht rang. Ich fühlte das fast körperlich, wenn ich in den Nächten einen Verurteilten zu betreuen hatte und durch die matt erleuchteten, hallenden langen Korridore des Gefängnisses schritt.“
Nicht der Einzige
Ebenso wie es Poelchau nach dem Krieg stets vermieden hat, seinen Einsatz für die Todeskandidaten hervorzuheben oder dafür gar irgendeine Anerkennung zu erwarten, hat er an stille und unbemerkte Helfer erinnert - wie etwa an Willi Kranz, den Kantinenwirt der Haftanstalt Plötzensee; dieser hatte nicht nur Gefangenen, sondern auch Schützlingen der Widerstandsgrppe „Onkel Emil“ geholfen. Poelschau schreibt: [21]
„Ich lernte ihn kennen, als er mich bat, ich möchte doch darauf achten, dass die Verurteilten auch wirklich die Brote und die Wurst bekämen, die er für sie zugeschnitten hätte. Es bestand die Gefahr der Unterschlagung dieser ‚letzten‘ Nahrungsmittel. Vater Kranz wachte eifersüchtig darüber, dass nichts verlorenging, und er steckte den Verurteilten, so oft er konnte, unbemerkt Nahrungsmittel zu. Er war ein Mann, der wenig sprach und gern nur durch Gebärden andeutete, was er wollte. Er hat mir viel geholfen. Ein jüdisches Kind verbarg er ein Jahr lang bei sich. Einen Mann, dessen Eltern in Auschwitz ermordet wurden, verpflegte er lange Zeit heimlich. Und er tat das alles selbstlos. Sein Wirken erstreckte sich weit über Plötzensee hinaus. Es gelang ihm, Verbindungen bis in das Zuchthaus Brandenburg hinein anzuknüpfen. Durch seine Hilfe hatten wir in der größten Hungerzeit 1944 immer einen Vorrat von Lebensmitteln für die Gefangenen bereit. 1945 brannte ihm bei den Kämfen um Berlin sein gesamtes Warenlager ab. Ich traf ihn erst im Juli 1945 wieder. Er war Altwarenhändler geworden; mit einem Handwagen fing er ganz von vorne an und klaubte sich das Papier in alten leeren Kasernen und an anderen Orten zusammen.“
Es ist schwer vorstellbar, wieviele mehr oder weniger bereitwillige Gehilfen die Mordmaschinerie beschäftigte. Es waren ja nicht nur die Spitzel, Gestapo- und SS-Leute, die die Verhaftung der Verdächtigen ermöglicht hatten; bis zur Veruteilung kamen wiederum Dutzende von Justizbeamten und Angestellten hinzu, die ihre Arbeit taten. Dazu Protokollführer, Richter und Sekretärinnen, die sich damit beschäftigten, die richterlichen Entscheidungen vollstreckbar zu machen. Danach erneut Justizsekretäre, Polizeibeamte, Fahrer der „Grünen Minna“ und Wachleute, die die Überführung in die Haftanstalten zu erledigen hatten. So waren dem Endstadium der Verurteilten verschiedenste Tätigkeiten von Hunderten weiterer Funktionsträger vorgeschaltet, die die Haft und die schließliche Vollstreckung der Urteile möglich machten.
War dem Schneider, der den schwarzen Vorhang vor der Guillotine genäht hatte, klar, welchem Zweck der Vorhang dienen sollte? Hat er gewußt, warum keine Stoffschlaufen, sondern leichte Eisenringe daran befestigt werden sollten, damit der Vorhang mit einem Ruck aufgerissen werden konnte? Hat er auch von der Guillotine hinter dem schwarzen Vorhang gewußt oder hat er sie sogar gesehen? Und wer war es überhaupt, der dieses Mordinstrument angefertigt und zusammengebaut hatte? Wussten die in der Tischlerei beschäftigten Gefangenen in Tegel, woran sie da arbeiteten? Oder die Schlosser, dass dieses Eisen ein Fallbeil werden sollte, dessen Schärfe und Härte genau überprüft werden musste, damit es zweifelsfrei funktionierte?
Wer waren sie alle? Haben sie - trotz des strengen Schweigegebots - ihren Ehefrauen, ihren Verwandten, Freunden und Arbeitskollegen berichtet, womit sie beschäftigt waren? Es müssen in Tegel und Flossenbürg Hunderte und in allen Berliner Haftanstalten Tausende gewesen sein, die mitgewirkt haben - alle stumm und sprachlos? Und das nicht nur im mörderischen Terrorstaat der Nationalsozialisten, sondern auch danach, als die Kriegsschrecken beendet waren und jetzt die so genannte „Entnazifizierung“ anstand?
Von alldem „nichts gewußt zu haben“, war damals jedenfalls die Erklärung von Mittätern und Mitläufern, die den Neuanfang so erschwerte. Menschen wie Harald Poelchau oder Ruth Andreas-Friedrich, die wie durch ein Wunder überlebten, sind lange nicht angehört worden, denn den Ton in der Öffentlichkeit gaben andere an. Dass nicht wenige von diesen zuvor selber an den Untaten mitgewirkt hatten, ist oft erst viel später ans Licht gekommen.
Mörder in der Richterrobe
Als Anstaltsgeistlicher hatte Poelchau im Dezember 1942 auch mit einem der übelsten Justizmörder des NS-Regimes zu tun: Dr. Manfred Roeder, der am Reichskriegsgericht die Anklage im Prozess gegen die „Rote Kapelle“ vertreten und Dutzende Todesurteile erwirkt hatte. Unter Hinweis auf einen „Führerbefehl“ lehnte er damals Poelchaus Bitte ab, den in diesem Prozess Verurteilten seelischen Beistand leisten zu dürfen. Wohl aber brüstete Roeder sich gegenüber Poelchau, es sei ihm bei der „Roten Kapelle“ gelungen, „rund einhundert Intellektuellen und Arbeitern den Kopf vor die Füße zu legen“. [22]
Roeder selbst hat es sich nicht nehmen lassen, bei der Erdrosselung der ersten vier der in diesem Verfahren zum Tode Verurteilten persönlich zugegen zu sein. [23] Ob er später auch bei der Vollstreckung der 79 übrigen Todesurteile anwesend war, ist unbekannt. Roeder hat den Krieg nicht nur überlebt, sondern ist auch aus den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen schadlos davongekommen, so dass er in den Nachkriegsjahren wieder neonazistisch aktiv werden konnte.[24]
Todesurteile von Militärangehörigen
Poelchau musste in allen Berliner Vollzugsanstalten, also in Tegel, Plötzensee, Moabit, Spandau und Brandenburg mitwirken, was ihm angesichts der immer größeren Zahl von Inhaftierten ermöglichte, auch als Bote von Nachrichten und kassiberten Briefen deren Angehörige und Freunde zu unterrichten.[25]
Er musste als Wehrmachtspfarrer auch an den Erschießungen von Soldaten teilnehmen, die wegen „Feigheit vor dem Feind“, „Wehrkraftzersetzung“ und ähnlicher Verbrechen zum Tode verurteilt waren. Er schreibt:[26]
„In meiner Eigenschaft als Wehrmachts-Gefängnispfarrer habe ich auch vielen Erschießungen beiwohnen müssen. Die Prozedur begann am frühen Morgen im Militärgefängnis mit der Fesselung des Gefangenen - eine halbe Stunde vor dem Abtransport. Der Verurteilte durfte seine Uniform tragen, aber ohne Rangabzeichen und Orden. Es geschah selten, dass ein einzelner Mann zur Hinrichtung bestimmt war. In der Regel wurden mehrere Verurteilte, drei bis vier, gleichzeitig in den Wagen geladen. Der Wagen entsprach der ‚Grünen Minna‘, wie die Berliner den Transportwagen für Arrestanten nennen. Doch war er als militärisches Fahrzeug feldgrau gestrichen. Er enthielt auf zwei langen Holzbänken an den beiden Innenwänden zwölf Sitzplätze und konnte, wenn er überfüllt war, bis zu zwanzig Personen fassen. Er hatte nach hinten hinaus ein kleines vergittertes Fenster.
Ich musste im vollen Ornat erscheinen und nahm in der Nähe des Fensters Platz. Die Gefangenen saßen auf der gleichen Bank neben mir. Zwei oder drei mit Gewehren bewaffnete Solaten stiegen zum Schluss ein.
Die Fahrt von Tegel bis zum Schießplatz schien kein Ende nehmen zu wollen. Dabei betrug die normale Fahrtdauer nur zehn bis zwölf Minuten. Aber für Menschen, die in den Tod fahren, gilt ein anderes Zeitmaß als die Uhr.
Es fielen nicht mehr viele Worte. Was zu sagen war, war in der Zelle in der Nacht vorher ausgesprochen worden. Nur selten musste ich noch Dinge notieren, die dem Verurteilten am Herzen lagen - etwa Grüße an Frauen und Kinder. Der einzige Liebesdienst, den ich noch erweisen konnte, bestand darin, dass ich den Männern immer wieder eine Zigarette zwischen die Lippen steckte, sie anzündete, sie wieder herausnahm und erneut gab. Die Gefangenen waren ja mit ihren auf dem Rücken gefesselten Händen hilflos.
Das Pflaster war schlecht. Der Wagen musste langsam fahren. Ich sah durch das vergitterte Fenster. Der Weg rollte sich wie ein langes Band hinter uns ab. Ich sah plötzlich auftauchende Bäume, Passanten, Frauen mit Kinderwagen. Die Straßenbahnen, überfüllt, ratterten vorbei. Der Wagen hielt nach Ewigkeiten, das Tor war erreicht. Die Wachen stiegen aus, Ausweise mussten vorgezeigt und geprüft werden. Wieder ein unerträglich langer Aufenthalt.
Dann fuhr der Wagen direkt vor die Schießstände. Die Verurteilten wurden einzeln aufgerufen und einzeln abgführt. Die übrigen hatten zu warten, bis sie an der Reihe waren. Es gab nur Einzelerschießungen.
Das Warten im dunklen dumpfen Wagen gehört zu meinen schlimmsten Erinnerungen. Wie oft habe ich dieses Im-Wagen-Sitzen und -Warten mitmachen müssen. Wenn Katholiken als erste erschossen wurden, begleitete sie der katholische Geistliche, und ich blieb mit den mir Anvertrauten im Wagen.
Wir sahen, wie der Aufgerufene aus dem Wagen kletterte und von zwei Feldwebeln in Empfang genommen wurde, die ihn flankierten. Dann hörten wir, wie die Schritte sich entfernten. Wir saßen und warteten. Schleichende Minuten. Ich hörte das Atmen der Männer. Meine Arbanduhr tickte. Endlich das Krachen der Salve, fast wie eine Erlösung. Manchmal danach ein schrecklicher Schrei oder Stöhnen. Dann noch ein einzelner Schuss. Und dann war es still. Wir saßen und warteten. Ich hörte das Atmen der Männer. Schritte ertönten wieder. Die Feldwebel holten den zweiten Mann ab. Der gleiche Vorgang - die Schritte, die Schüsse, die Stille. Und wir saßen und warteten. Der dritte Mann kam an die Reihe, der vierte Mann. Und der letzte hatte einen vielfachen Tod erfahren, ehe die Kugeln ihn trafen.
Wenn mein Mann aufgerufen war, stiegen wir aus dem dunklen Wagen. Die Morgensonne blendete uns. Die Feldwebel nahmen den Verurteilten in ihre Mitte. Ich folgte. Er wurde in einen Holzweg geführt, der sich etwa fünfzig Mter zwischen zwei Wällen hinzog. Unter dem Kommando eines Hauptmanns war eine Abteilung Soldaten von zehn bis zwölf Mann aufmarschiert. Der Gerichtsherr las das Urteil noch einmal vor. Dann übergab er den Verurteilten dem Hauptmann zur Vollstreckung.
Der Hohlweg endete in einem Kugelfang aus Sand und Holzbohlen. Davor war ein Pfahl in die Erde gerammt. Man band den Verurteilten an den Pfahl. Er konnte sich die Augen verbinden lassen, wenn er es wünschte. Sein letzter Blick ging über die Soldaten hinweg auf die Bäume und Sträucher des nahen Waldgeländes.
Das Hinrichtungskommando hatte in zehn Meter Abstand Aufstellung genommen. Das erste Glied legte im Knien an, das zweite Glied im Stehen. Die Gewehre richteten sich auf das Herz des Mannes am Pfahl. Der Hauptmann gab den Befehl, der Tod trat in den meisten Fällen sofort ein. Aber doch nicht immer. Oft musste der Schwerverwundete, der stöhnend in seinen Stricken hing, durch einen Gnadenschuss erlöst werden.
Die Leichen kamen ins Leichenschauhaus und konnten auf Antrag der Angehörigen freigegeben werden. Die Körper der Ausländer und der ‚Nacht- und Nebel-Gefangenen‘ schaffte man nach Döberitz zur Beisetzung auf dem Kriegsgefangenenfriedhof.“
Was Poelchau hier beschreibt, fand in Ruhleben im Schanzenwald der Murellenschlucht neben dem Berliner Olympiastadion statt. Hier wurden in der Erschießungsstätte der Wehrmacht von August 1944 bis April 1945 mehr als 230 Wehrmachtsangehörige erschossen. In der heutigen Gedenkstätte sind dort an den Erschießungsorten symbolisch Spiegel mit erläuternden Inschriften aufgestellt.
Gedenkstätte Schanzenwald in der Murellenschlucht von Berlin-Ruhleben
Poelchau und Dietrich Bonhoeffer
Einer der zahllosen Gefangenen, die Poelchau in Tegel betreute, war auch der seit dem 5. April 1943 inhaftierte und am 9. April 1945 in Flossenbürg ermordete Dietrich Bonhoeffer.[27] Poelchau hat ihn während seiner Haftzeit in Tegel oft besucht und seine „Gebete für Gefangene“ in Empfang genommen. Poelchau schreibt über ihn:[28]
„Von einem Theologen, den ich ein dreiviertel Jahr fast täglich besuchte, muss ich sagen, dass ganz eindeutig er der Gebende und ich der Nehmende war: Dietrich Bonhoeffer, dessen Briefe aus dieser Zeit zeigen, womit er sich beschäftigt hat. Seine ‚Gebete für die Gefangenen‘ verfasste er auf meinen Wunsch für sein Gefängnis. In seinen Gedichten aus Tegel sagt er einmal von sich: ‚Wer bin ich? Ich trete aus meiner Zelle wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.‘ Damit beschreibt er richtig die große Überlegenheit, die von ihm ausging, auch in der Zelle: ein junger Mensch aus dem großen Haus des Berliner Psychiaters, führend in der Bekennenden Kirche, deren illegales Predigerseminar Schönwalde er leitete, von einer sehr persönlichen, vom Traditionellen abweichende Frömmigkeit, die sich auch mit den ‚Gottlosen‘ fand, war sein Einfluss auf Mitgefangene und das Militärpersonal so groß, dass er wie in Freiheit lebte. Er hätte leicht fliehen können, wollte aber niemanden dadurch belasten. Nach dem 20.Juli-Attentat holte ihn die Gestapo aus dem Militärgefängnis fort und ermordete ihn noch am 9. April 1945.“
Bonhoeffers von Poelchau in Tegel verteilte Gedichte müssen für manche der im 4.Stock gefesselt in ihren Zellen sitzenden Gefangenen ein Trost gewesen sein,[29] zumal weil dort oben Panik ausbrach, wenn die abgeworfenen Brand- und Sprengbomben das Dach der Anstalt durchschlugen. Dabei sind auch dort oben Inhaftierte zu Tode gekommen. So sprach Poelchau mit Bonhoeffer über „unkonventionelle Frömmigkeit“ und „religionsloses Christentum“. [30]
Poelchaus Tätigkeit außerhalb der Gefängnisse
Poelchaus Arbeit beschränkte sich aber nicht auf den Dienst innerhalb der Gefängnisse; als Mitglied des Kreisauer Kreises sorgte er auch für Verfolgte, die nicht inhaftiert waren. Dazu gehörten auch zahlreiche Juden, die versuchten, sich mit falscher Identität durchzuschlagen; sie mussten versorgt, beherbergt oder versteckt werden.[31] Dadurch gefährdete sich Poelchau besonders. Er schreibt: [32]
„Es war die Zeit, in der die Verfolgten ‚tauchen‘ mussten, wenn sie ihr Leben retten wollten. Konnte man sie von der Tür weisen, wenn sie um Aufnahme baten? Es war schwierig, Lebensmittelkarten für sie zu beschaffen und sie während der Luftangriffe zu verstecken, die nachts im Keller die gesamten Hausbewohner im Keller vereinten, so dass ein Fremder auffiel, zumal wenn er jüdisch aussah. Zunächst ließ ich die Gäste oben in der Wohnung. Sie lag aber unmittelbar unter dem flachen Dach, und kleine Stabbrandbomben schlugen öfter durch. Unsere jüdischen Gäste waren durch das Herumgehetztsein ohnedies mit den Nerven fertig und bekamen solche Angstzustände, wenn die ‚Weihnachtsbäume‘ [33] um das Haus standen und deutlich machten, dass auf unsere Gegend Bomben fallen würden, so dass ich sie in unserer Privatkeller holte, wenn alles im Luftschutzkeller saß. Auch sonst war man immer gefährdet, weil man sich nie darauf verlassen konnte, dass der Name des letzten Helfers aus einem entdeckten Flüchtling herausgeprügel würde. Wieviel Mühe es kostete, diesen Menschen wieder zu - arischen - Papieren zu verhalfen, wieviel Hilfe man aber auch dabei erfuhr von Leuten, von denen man es nicht erwartet hätte, wäre wert festgehalten zu werden. Kurt Grossmann berichtet in seinem Buch ‚Die unbesungenen Helden‘ [34] von ihnen.“
Um die Entdeckung der Untergetauchten im von Nachbarn überfüllten Luftschutzkeller zu vermeiden, blieb zuweilen keine andere Möglichkeit, als sie in der eigenen Wohnung zu belassen. Um daher die Entdeckung von Untergetauchten in seiner Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in der Afrikanischen Straße in Berlin-Wedding zu verhindern ließ sich Poelchau auch als ‚stellvertretender Luftschutzwart‘ für sein Haus registrieren, weil nur er dann das Recht hatte, seine verlassene Wohnung zu betreten.[35] So konnten auch die großen Mengen von Lebensmitteln, die er für Verfolgte in seiner Wohnung unter dem Bett versteckt hatte, nicht entdeckt werden.[36]
Die Beschaffung neuer Papiere für die Untergetauchten war für Poelchau ein zentrales Problem. Er löste es mit Todesverachtung: Als er zum Beispiel einmal bei einem Bombenangriff auf der Straße angehalten wurde, um bei Lösch- und Aufräumarbeiten zu helfen, betrat er kaltblütig eines der getroffenen Gebäude, weil darin eine Dienststelle der Partei ihren Sitz hatte. Aus deren Büro ließ er eine Menge von Hakenkreuz-Stempeln und Formularvordrucken mitgehen, um sie später bei der Herstellung von gefälschten Nazi-Dokumenten zu benutzen. Auch den jungen jüdischen Musiker Konrad Latte hat Poelchau mit einem solchen gefälschten Ausweis gerettet.[37]
Wenn man bedenkt, dass jeder der als „U-Boot“ Untergetauchten ein Netz von Helfern benötigte, so kann man abschätzen, wie viele es gewesen sein müssen, die damals ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt haben, um Juden oder Untergetauchte zu retten. Konrad Latte, der Folter und Verhaftung überlebte, berichtet, er habe allein in Berlin mindestens fünfzig Helfer gehabt, die ihn versteckten, versorgten und so gerettet haben. Latte ist es auch gewesen, der bei Yad Vashem die Ehrung von Poelchau als „Gerechter unter den Völkern“ angeregt hat.[38] Poelchau hat die Inhaftierten nicht nur mit Kassibern ihrer Freunde und Angehörigen, sondern auch mit Lebensmitteln versorgt, die er in seiner Aktentasche transportierte. Als dies nach einer Denunziation zu riskant für ihn wurde, hat er das geheime Material in seiner Anzugsjacke zwischen Tuch und Futter versteckt.[39]
Während der Kriegsjahre stieg die Zahl der von der Justiz Ermordeten dermaßen an, dass nicht nur auf die traditionelle Henkersmahlzeit, sondern auch auf die Veröffentlichung mit roten Plakaten an den Anschlagssäulen verzichtet wurde.[40] Für jede vollzogene Hinrichtung erhielt der Henker 300 und seine Gehilfen 50 Reichsmark. Angesichts der immer größeren Zahl von Todesurteilen empfingen sie daher für ihr Tun weit mehr als der Anstaltsgeistliche, der die Verurteilten, nicht nur während der Wartezeit in der Haft, sondern auch in ihrer letzten Nacht begleitet hatte. Für die zwischen April und September 1943 vollzogenen 543 Exekutionen hat der Berliner Henker Reichart 16 900 Reichsmark bezogen; er rettete sein Vermögen auch über den „Zusammenbruch“ von 1945 hinweg und empfing „im Ruhestand“ seine Rente.[41]
Gegen Kriegsende haben Poelchau und seine Frau in ihrer kleinen Wohnung wochenlang auch zwei jüdische Jugendliche Ralph und Rita Neumann, 16 und 18 Jahre alt, versteckt; ihnen war während eines Bombenangriffs in der Nacht vor ihrer Deportation nach Auschwitz die Flucht aus der Gestapo-Haft im Sammellager Große Hamburger Straße gelungen. Während eines Bombenalarms hatten sie sich mit Hilfe eines Seils aus dem 3. Stock des Sammellagers abgeseilt; das Seil hatte dabei ihre Hände bis auf die blutigen Knochen durchgescheuert. Nach Ende des Luftangriffs standen sie nachts um 3 Uhr vor der Wohnung der Poelchaus, die sie von vorangegangenen Hilfsaktionen kannten. So überlebten sie.[42]
Wie die schwer vollstellbaren Alltagsbelastungen der Poelchaus im Bombenkrieg auszuhalten waren, hat Harald Poelchau selber in der Rückschau erläutert. Er schreibt:[43]
„Ich war nicht allein gelassen. Ich hätte es nicht ausgehalten, wenn ich nicht Menschen gehabt hätte, von denen ich mich getragen und gestützt wußte. Da ist an erster Stelle meine Frau, die nie bremste oder warnte, sondern voll dahinter stand und im Stillen viel für alle die tat, die als Angehörige von Gefangenen oder Verfolgte ins Haus kamen. Wir kamen beide aus der Jugendbewegung, hatten von früh an die gleiche Einstellung und Entwicklung gehabt, und sie sah in der Not der Verfolgten auch ihre Aufgabe, konnte ihnen mit mehr praktischem Blick und mütterlicher Wärme besser Heimat geben als ich.“
Kriegsende
Das Ende des Krieges haben die Poelchaus nicht in Berlin erlebt, obwohl sie eigentlich vorhatten, dort zu bleiben. Sie hatten sich entschlossen, Berlin zu verlassen, denn Todeskandidaten waren nicht mehr zu betreuen und der inzwischen 6 Jahre alte Jung-Harald litt unter Asthma und hohem Fieber. Poelchau selbst stürzte, mit Koffern beladen, auf der Treppe und kam erst nach längerer Bewusstlosigkeit wieder zu Sinnen.[44] Dies erwähnt er aber gar nicht in seinen eigenen Erinnerungen - offenbar weil es ihm widerstrebte, sich selber in den Vordergrund zu rücken. Er schreibt:[45]
„Man hatte so lange durchgehalten, warum nicht noch den Rest überstehen? Da kam Ostern 1945 eine Einladung auf ein fränkisches Gut, dessen Gutsherr noch bei mir in Tegel gefangen saß, und nicht nur die Einladung, sondern zugleich das Angebot, mit einem leer zum Führerquartier nach Berchtesgaden fahrenden Salonwagen mit Schlafgelegenheit mitzufahren. Das war eine so unwahrscheinliche Chance, dass ich glaubte, sie nicht ausschlagen zu dürfen, um wenigstens meine Frau und den sechsjährigen Sohn herauszubringen. Nach häufig durch Fliegerangriffe unterbrochener Fahrt kamen wir am 7.April zwar nicht zum Ziel, aber noch auf ein 30 km entferntes Gut, wo wir von den Amerikanern überrollt wurden. Einige Tage darauf erreichten wir auf Nebenwegen das Gut unserer Freunde.[46] Ich musste ohne jedes Gepäck bleiben, und es dauerte über vier Monate bis ich wieder nach Berlin kam. Diese vier Monate der Abgeschnittenheit, der Arbeit mit dem Vieh auf dem Gut, den langsam durchsickernden Nachrichten von Hitlers Tod und dem Frieden habe ich in sehr schöner Erinnerung. Im Mai kam auch der Gutsherr zu Fuß von Berlin her, aus dem Gefängnis befreit.“
In Bundorf begegnete Poelchau auch Maria von Wedemeyer, der Verlobten von Dietrich Bonhoeffer; sie beide wußten damals noch nichts von der kurz zuvor in Flossenbürg geschehenen Ermordung Bonhoeffers.[47]
Nachkriegszeit
Nach dem Rückweg auf unvorstellbaren Wegen durch die Besatzungszonen nach Berlin gelangt, gründete Poelchau gemeinsam mit Eugen Gerstenmaier, den er als Todeskandidat aus Tegel kannte und der überlebt hatte, das Hilfswerk der Evangelischen Kirche.[48] Dies war zugleich auch eine Abkehr von anderen Einrichtungen der evangelischen Kirche, denn dass die staatsfrommen „Deutschen Christen“ 1935 sogar einen „Arierparagraphen“ in ihre Satzung aufgenommen hatten, empörte ihn in den Jahren davor.[49] Poelchau war Gerstenmaier in Moltkes Kreisauer Kreis persönlich nahe gekommen und hatte ihn auch in Tegel betreut; ab August 1945 leitete er daher als Generalsekretär das neu ins Leben gerufene Hilfswerk der Evangelischen Kirche. Im Winter 1945 trat Poelchau in Berlin auch in die Leitung des Strafvollzugs der zentralen Justizverwaltung der sowjetischen Besatzungszone ein; dort musste er sich als Nichtjurist zuerst Verwaltungswissen und Behördenstil aneignen. Nach Revisionsreisen, die ihn durch sämtliche Gefängnisse der sowjetischen Zone führten - außer durch die Anstalten für politische Gefangene, die sich die Sowjets vorbehalten hatten, - wurde er nach Karlshorst zum Bericht zitiert. Er schreibt:[50]
„Persönlichen Kontakt, wie man ihn damals mit amerikanischen oder englischen Offizieren gewohnt war, gab es trotz aller Freundlichkeit nicht. Das Symbol der Russen blieb der hohe undurchsichtige Bretterzaun, den sie sofort um ihre Dienststellen zogen. Trotzdem lernten wir alle im Ministerium russisch, um uns wenigstens mit dem kleinen Kommandanten verständigen zu können, mit denen wir es bei unseren Dienstreisen zu tun hatten. Die beste Schülerin bei diesem Unterricht war Hilde Benjamin, die Personalreferentin des Ministeriums.“
Zu welchen Menschen, denen er damals begegnet war, er in den späteren Jahren noch Kontakt hatte - etwa zu Eugen Gerstenmaier, dem späteren Bundestagspräsident, oder zu Hilde Benjamin, der späteren Justizministerin der DDR - , beschreibt Poelchau aber nicht in seinen Erinnerungen. Hilde Benjamin kannte er jedenfalls über ihren Mann, den er - als zum Tode verurteilter Kommunist und Jude - in seinen letzten Wochen begleitet hatte.[51] Solche Aufstiege in höchste Staatsämter werden ihn auch später kaum interessiert haben. Was ihn stattdessen beschäftigte, nämlich die Verbesserung menschlicher Haftbedingung für die Gefangenen, das hat ihn auch in der Nachkriegszeit nicht losgelassen. So erhielt er zunächst im Gebäude des Oberkirchenrats in der Jebenstraße neben dem Bahnhof Zoo eine provisorische Unterkunft für seine Arbeit. Die Fenster mussten dort 1945 mit Pappe und Holzbrettern gegen die Winterkälte verkleidet werden; Gertie Siemsen, die Mutter seiner Tochter Anna-Andrea half ihm hier im Sekretariat.[52] Er schreibt: [53]
„Das Maß an Hunger und Elend in den Gefängnissen jener Zeit kann sich nur der vorstellen, der noch Konzentrationslager gesehen hat. Die Sowjets hatten die barbarische Gewohnheit, alle Fenster, durch die Kontakt mit der Straße aufgenommen werden konnte, mit Blechblenden zu versehen, o dass der Gefangene oft monatelang im Halbdunkel saß. Glühbirnen gab es natürlich nur für die, die sie nachweislich für ihre Arbeit brauchten.“
Die wiederum schwer vorstellbaren Arbeitsbedingungen in der Justizverwaltung in der Ostzone bedeuteten für Poelchau ständig neue Herausforderungen, weil die menschliche Nähe und Hilfe, um die es ihm eigentlich ging, durch Verwaltungswege immer schwieriger wurde. So erwähnt er, die sowjetische Besatzungsmacht lasse sich in vielen Fällen missbrauchen, wobei „die Initiative bei unverantwortlichen deutschen Elementen“ liege; diese handelten „aus Machtgier oder persönlichen Gründen“. Aber es genüge eine Denunziation bei den Russen, wenn sie von der SED gestützt werde, und man „verschwinde, ohne ein Zeichen von sich geben zu können.“
Er schreibt weiter: [54] „Die Situation ist für uns Sozialisten besonders schwierig, weil wir uns in der geeinten Arbeiterpartei (SED) vertreten fühlen müssten, dies aber nicht können, weil diese keine eigene Gestaltung versucht, sondern nur die Ausführung russischer Befehle betreibt. Ich bin mit einem guten Vorurteil für die Russen nach Berlin gekommen, sehe aber aus allen Versuchen, mit ihnen zusammenzuarbeiten, dass hier die menschlichen Grundforderungen Gerechtigkeit und Freiheit überrhaupt nicht gesehen, geschweige denn beachtet werden.“
Über seine Tätigkeit im Nachkriegs-Strafvollzug in der sowjetisch besetzten Zone von Berlin schreibt er: [55]
„Zum 1. April 1949 schied ich aus, weil ich mir von einer Übernahme des Strafvollzugs aus der Justiz in die Polizeiverwaltung keine Möglichkeit eines Erziehungsstrafvollzug versprach. Der Minister bot mir eine ordentliche Professur (an der Humboldt-Universität) an statt des bisherigen Lehrauftrags in der juristischen Fakultät. Aber ich war der Meinung, das läge zu weit ab von meiner grundsätzlichen Entscheidung der Kirche zu dienen, für die ich ordiniert worden bin. So wurde ich wieder Gefängnispfarrer in Tegel.“
Erneut Anstaltsgeistlicher in Tegel 1950
Auch dieses Amt hat Poelchau aber nur noch ein Jahr lang ausgeübt. Er vermied nicht nur jedes missionarische Argumentieren, sondern er hat sich auch selber nie in den Vordergrund gerückt, denn es ging ihm nur um die Hilfe für Bedrängte. In diesem Sinne hat er auch die letzten Jahre seines Lebens geführt. Klaus Harpprecht beschreibt diese Zeit Poelchaus eindrucksvoll - einschließlich der empörenden Episoden aus der Nachkriegszeit, als im „entnazifizierten“ Deutschland zahlreiche Alt-Nazis wieder in Amt und Würden zurückkehrten.
Dass dann beispielsweise auch dem von Poelchau geretteten Konrad Latte 1951 die Anerkennung als „politisch, rassisch und religiös Verfolgter“ verweigert wurde mit der Begründung, er habe „unter dem Namen Konrad Bauer als Pianist an Wehrmachtstourneen teilgenommen und zur Vermeidung von Unannehmlichkeiten eine Steuerkarte beim Finanzamt beantragt.“ Dass der arische Tarnname Bauer ihm das Überleben ermöglicht hatte, spielte schon keine Rolle mehr. Weiter heißt es in dem Ablehnungsbescheid, Latte sei „obwohl seine volljüdische Abstammung außer Zweifel stehe, seiner Gesinnung nicht treu geblieben, da er als Konrad Bauer mit dem Eintrag ‚Religion ev.‘ in der Lohnsteuerkarte sich in den Dienst des damaligen Regimes gestellt“ habe. Damit habe er „gegen § 6 des Anerkennungsgesetzes verstoßen“.
Für den Verfasser dieses Bescheids wäre Latte seiner „Gesinnung“ demnach nur dann „treu geblieben“, wenn er in den Gaskammern von Auschwitz geendet wäre. Auch am Amtsgericht Cottbus waren ähnliche Vollzugsgehilfen der „Entnazifizierung“ tätig; so forderten sie von Latte noch am 23. Mai 1952 die Zahlung von 32 DM für die Todeserklärung seines Vaters Dr. Manfred Latte - „andernfalls der Betrag zwangsweise beigetrieben“ werde. [56] Dass sein Vater in Auschwitz ermordet worden war, spielte auch hier keine Rolle mehr.
»WAS BRAUCHT ES EINEM ANDEREN ZU HELFEN«
Denkmal für Harald Poelchau
Projekt der Künstlerin Katrin Hattenhauer mit Häftlingen der JVA Tegel 2018
(katrinhattenhauer.com)[68]
Erinnerung
Es folgten in der Nachkriegszeit für Poelchau und seine Frau Einladungen nach Holland, Norwegen und Frankreich; sie wurden eingeladen von Vereinigungen des Widerstands oder von Angehörigen der Opfer, die sie vor ihrer Ermordung in Tegel betreut hatten. Reisen in diese Länder waren damals noch gefährlich, wenn man auf der Straße deutsch sprach und nicht in Begleitung von Einheimischen war.
Schließlich wurde Poelchau von Otto Dibelius, dem Bischof von Berlin-Brandenburg, zu einer ganz neuen Aufgabe berufen, die ihn sehr erfüllte und die er von 1951 bis zu seinem Tod 1972 ausgeübt hat: Sozialpfarrer der evangelischen Kirche Berlins, um das Verhältnis zwischen evangelischer Kirche und industrieller Welt zu befördern.[57] Mit diesen Aufgaben war Poelchau in den späteren Jahren beschäftigt - abgesehen von einigen wenigen Vortragsreisen, die er mit seiner Frau unternehmen konnte.
Auch dass er am 30.November 1971 gemeinsam mit seiner Frau Dorothee in der Gedenkstätte von Yad Vashem auf der Allee der Gerechten geehrt wurde, weil sie beide zahlreiche Juden versteckt und gerettet hatten, war eine späte Anerkennung ihrer lebensgefährlichen Hilfe.[58] Wieweit Poelchau diese Ehrung überhaupt noch zur Kenntnis genommen hat, ist unbekannt, denn sein ruheloses Leben endete nach verschiedenen Krankheiten schon am 29.April 1972, neun Tage nachdem er das Gesuch auf Versetzung in den Ruhestand unterzeichnet hatte.[59]
Die bedrohlichen Bedingungen, die Poelchau und seine Frau in ihrer Tätigkeit vorfanden, beschreiben die beiden Kinder von Harald Poelchau in den Vor- und Nachworten von Poelchaus 2004 neu herausgegebenen wichtigsten Schriften, die mit Beiträgen von Peter Steinbach, [60] Clarita von Trott zu Solz,[61] und Hans Storck ergänzt sind. Poelchaus 1940 geborener Sohn führt den Vornamen seines Vaters Harald und seine Tochter Anna-Andrea ist die Tochter der mit Poelchau seit Studienzeiten befreundeten Gertie Siemsen, die - in der Not des in Grund und Boden bombardierten Berlin - in der Wohnung der Poelchaus Unterkunft fand. In all den Jahren hatte sie Kontakt zu den Poelchaus gehalten; sogar im „Paradiesgärtlein“ von Tegel hat sie mitgearbeitet. Im Herbst 1944 wurde ihr bewusst, dass sie von Harald Poelchau schwanger war. Ohne Scheu vor den zu erwartenden Anfeindungen und Komplikationen hat sie das Kind ausgetragen. Ihre Tochter Anna - später in Andrea umgewandelt - brachte sie unter dramatischen Bedingungen zur Welt und fand dann in der Wohnung der Poelchaus Unterkunft, nachdem ihre eigene Berliner Wohnung im Bombenhagel vernichtet worden war.[62]
Zehn Jahre nach Poelchaus Tod hat dann auch Werner Maser seine mit Poelchau geführten Gespräche herausgegeben.[63] Inzwischen gibt es in Berlin zahlreiche Erinnerungsstätten, die Poelchau ein ehrendes Gedächtnis bewahren, nicht nur eine Gesamtschule in Charlottenburg-Nord trägt Poelchaus Namen, sondern auch das Haus der Kirche am Karolingerplatz und auch ein Berliner S-Bahnhof. [64]
Die wichtigsten Botschaften der Erinnerung aber hat Poelchau selber organisiert, indem er auch die Abschiedsbriefe der Todeskandidaten aus den Gefängnissen heimlich nach draußen beförderte. [65] So auch den Abschiedsbrief, den Helmuth James Graf von Moltke, Begründer des Kreisauer Kreises, an seine Söhne geschrieben hatte. Moltke schrieb:[66]
„Ich habe mein ganzes Leben lang, schon in der Schule, gegen einen Geist der Enge und der Gewalt, der Überheblichkeit und der mangelnden Ehrfurcht vor Anderen, der Intoleranz und des Absoluten, erbarmungslos Konsequenten angekämpft, der in den Deutschen steckt und der seinen Ausdruck in dem nationalsozialistischen Staat gefunden hat. Ich habe mich auch dafür eingesetzt, dass dieser Geist mit seinen schlimmen Folgeerscheinungen wie Nationalismus im Exzess, Rassenverfolgung, Glaubenslosigkeit, Materialismus überwunden werde. Insofern werde ich vom nationalsozialistischen Standpunkt aus zu Recht umgebracht.“
Lange nach Poelchaus Tod ist auch heute die Erinnerung an seine Arbeit unvergessen. Auch seine Ansprachen, die er auf Gedenkveranstaltungen gehalten hat, sind veröffentlicht[67] - so etwa seine Rede von 1954 für Ernst von Witzleben und den Widerstand vom 20.Juli, in der er - unter Berufung auf das 5. Gebot - den Tyrannenmord ablehnt.
Die Rückseite des Gefängnisses Lehrter Straße 2018
Zum Autor:
Dr. Christoph U. Schminck-Gustavus ist emeritierter Professor für Rechts- und
Sozialgeschichte an der Universität Bremen.
Seine in Deutschland, Polen, Italien und Griechenland erschienenen Bücher behandeln
Schicksale des Zweiten Weltkriegs. Zwei seiner bedeutendsten Werke sind:
“Der Tod auf steilem Berge -Die ‚Standgerichtsprozesse‘ gegen Dietrich Bonhoeffer
und Hans v. Dohnanyi und die Freisprechung ihrer Mörder“ sowie „Das Heimweh
des Walerjan Wróbel – Ein Knabe vor Gericht 1941/42“ – Donat-Verlag 2020/2007.
Fotos:
Titelseite: Aus dem Nachlass von Harald Poelchau
Fotos Plötzensee: Christoph Schminck-Gustavus
Fotoserie »Hoffnung«: Christoph Ranzinger
Hinter der straßenabgewandten Rückseite der Anstaltsgebäude in der Lehrter Straße sollen – nach unkontrollierbaren Aussagen von Anwohnern – in der Endkriegszeit Massenerschießungen von Häftlingen erfolgt sein. Hinter den von außen bemalten und mit Stacheldraht bewehrten hohen Backsteinmauern liegen heute Sportfelder mit einem Fußballplatz, Wettlauf- und Weitsprungstrecken sowie ein Skatepark. Jugendliche mit Skateboards vergnügen sich hier und kleine Mädchen strahlen voller Stolz über ihre Fahrkünste den fremden Beobachter an, der vergessen will, was hier früher geschehen ist.
[1] Harald Poelchau, Die letzten Stunden. Erinnerungen eines Gefängnispfarrers, o.O. o.J. (Berlin 1949); neu herausgegeben in: Harald Poelchau, Die Ordnung der Bedrängten. Erinnerungen des Gefänfnisseelsorgers und Sozialpfarrers (1903-1972), Berlin 2004, S. 42
[2] Als ich 1967 im Rahmen meiner juristischen Ausbildung als Referendar der Justizvollzugsanstalt in Tegel zugewiesen wurde, waren dort nirgends Hinweise auf die tragischen Orte und Phasen der Anstaltsgeschichte erkennbar. Wie ich 2018 bei einem Besuch in Tegel dann feststellte, war auch das „Paradies-Gärtlein“ nicht mehr vorhanden; lediglich vor dem von dort aus erreichbaren Eingang in Haus III waren zwei Gedenktafeln für Dietrich Bonhoeffer und Alfred Delp installiert, die beide in Tegel inhaftiert gewesen und in Plötzensee und Flossenbürg ermordet worden sind.
[3] Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 107 ff
[4] Ruth Andreas-Friedrich, Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938-1945, Berlin (1947), 3.Aufl. 1984, S. 117
[5] Harald Poelchau, „Helfen verboten“. Erlebte Geschichten aus den Nazi-Jahren, in: Ders. Die Ordnung der Bedrängten, Berlin 2004, S. 160 ff; vgl. auch: Wolfgang Benz, Protest und Menschlichkeit. Die Widerstandsgruppe „Onkel Emil“ im Nationalsozialismus, Ditzingen 2020, S. 117 mit Anm. 8
[6] Der Schattenmann, S. 160
[7] Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 163
[8] Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 43
[9] Peter Schneider, „Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen.“ Wie ein jüdischer Musiker die Nazijahre überlebte, Reinbek 2001, S.80, vgl. auch Steinbach, in: Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 206
[10] Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 48
[11] Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 38
[12] Vermutlich befindet sich heute die Guillotine - ebenso wie die in Hamburg - auseinander genommen auf einem Museumsspeicher.
[13] Klaus Harpprecht, Harald Poelchau. Ein Leben im Widerstand, Reinbek bei Hamburg 2004, S.90. Die eindrucksvolle Arbeit ist leider ohne Herkunftsnachweise und Belege.
[14] Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 170
[15] Brief vom 24.September 1941 in: Henry James Graf von Moltke, Briefe an Freya, hsg. Beate Ruhm von Oppen, 3. Aufl. München 2007, S.291
[16] Brief vom 9.Oktober 1941, in: Moltke, Briefe an Freya, S.298
[17] Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 56 ff
[18] Poelchau, Die letzten Stunden o.O.o.J, S. 53
[19] Werner Maser, Poelchau. Pfarrer am Schafott der Nazis. Der authentische Bericht des Mannes, der über 1000 Opfer des Hitler-Regimes auf ihrem Gang zum Henker begleitete, Rastatt 1982, S.131; vgl. auch Harpprecht, Poelchau, S.151
[20] Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 62 f
[21] Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 61 f und S.100 f; zu „Vater Kranz“, vgl. auch Peter Schneider, „Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen.“, S.119, 141 f und Harpprecht, Poelchau, S. 171
[22] Maser, Poelchau, S.116
[23] Harpprecht,Poelchau, S.130
[24] Hiska D. Bergander: Die Ermittlungen gegen Dr. jur. et rer. pol. Manfred Roeder, einen „Generalrichter“ Hitlers – Eine Untersuchung zur unbewältigten Rechtsgeschichte der NS-Justiz. Dissertation Universität Bremen 2007.
[25] Steinbach, in: Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 197
[26] Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 66
[27] Über Bonhoeffers Haftzeit und seine Ermordung vgl. meine Dokumentation C.U.Schminck-Gustavus, Der Tod auf steilem Berge. Die „Standgerichtsprozesse“ gegen Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi und die Freisprechung ihrer Mörder, Bremen 2020
[28] Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 91
[29] Dies berichtet Poelchau in einem Dokumentarfilm von Irmgard von zur Mühlen („Jeder Tod war mir ein tiefer Schmerz“, Chronos Media 2001) über seine Tätigkeit in Tegel, wo Bonhoeffer auch Nichtchristen betreute.
[30] Maser, Poelchau, S140
[31] Nach Schätzungen von Wolfgang Benz lebten von den damals 10-15.000 im Reich untertauchten Juden allein 5.000 „U-Boote“ in Berlin, vgl. Harpprecht, Poelchau, S.161
[32] Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 93
[33] Leuchtmarkierungen, die von vorausfliegenden Flugzeugen abgeworfen wurden, um den nachfolgenden Bombern zu signalisieren, wo genau ihre Bombenlast ausgeklinkt werden sollte.
[34] Kurt Grossmann, Die unbesungenen Helden. Zeugnisse der Menschlichkeit aus Deutschlands dunklen Tagen, in: Die Stundenbücher, Bd.40, Hamburg 1964
[35] Peter Schneider, „Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen“, S.81
[36] Harpprecht, Poelchau, S.160
[37] Peter Schneider, „Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen“, S.135; vgl. auch Harpprecht, Poelchau, S.175
[38] Die Rettung von Latte beschreibt ausführlich Peter Schneider, „Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen“, S.82, vgl. auch Harpprecht, Poelchau, S.162
[39] Peter Schneider, „Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen“, S.80
[40] Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 54 ff; Poelchau hat die Einzelheiten bereits in den Nachkriegsjahren gemeinsam mit dem Widerstandskämpfer Alexander Graf Stenbock-Fermor beschrieben, in: „Die letzten Stunden“, Ostberlin 1949
[41] Maser, Poelchau, S.60, 99, 141
[42] Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 102 f; vgl. auch Harpprecht, S.181
[43] Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 105
[44] Harpprecht, Poelchau S.183
[45] Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 113
[46] Gemeint ist das Gut Bundorf in Unterfranken zwischen Könighofen und Hofheim im Kreris Hassberge.
[47] Schminck,Gustavus, Tod auf steilem Berge, S.169; vgl. auch Harpprecht, Poelchau, S.184
[48] Harpprecht, Poelchau, S.154
[49] Harpprecht, Poelchau, S.165, 190
[50] Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 120
[51] Harpprecht, Poelchau, S.195
[52] Harpprecht, Poelchau, S.193
[53] Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 121, Harpprecht, Poelchau S.155 berichtet noch, dass Poelchau Honigbrote für die Hungernden – versteckt in den Taschen oder im Futter seines Anzugs – mitbrachte, die die Gefangenen dann sofort essen mussten
[54] Harpprecht, Poelchau, S.199
[55] Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 127; zu seiner Rolle als „Vortragender Rat“ im Strafvollzug der sowjetisch besetzten Zone vgl. auch Harpprecht, S.193
[56] Harpprecht, Poelchau, S.201
[57] Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 133 ff
[58] Israel Gutmann (Hsg.), Lexikon der Gerechten unter den Völkern. Deutsche und Österreicher, Göttingen 2005, S.224, vgl. auch Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 147; der Antrag auf diese Ehrung ging zurück auf Konrad Latte, der seine Rettung Poelchau zu verdanken hatte, vgl. weiter Schminck-Gustavus, Tod auf steilem Berge, S.130, Anm.235; ein Foto von der Gedenktafel für Dorothee und Harald Poelchau auf der Allee der Gerechten in Jerusalem in: Ordnung der Bedrängten, S.147
[59] Steinbach, in: Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S.207
[60] Leiter der Gedenkstätte deutscher Widerstand in Berlin
[61] Ehefrau des Widerstanskämpfers Adam von Trott zu Solz, die kurz vor der Verhaftung ihres Mannes selber in Sippenhaft genommen und bis zur Ermordung ihres Mannes von ihren kleinen Kindern getrennt wurde, aber überlebt hat; ihre in Bad Sachsa inhaftierten Kinder hat sie erst nach der Befreiung wiedergesehen; zur Kinderhaft in Bad Sachsa, vgl. C.U. Schminck-Gustavus, Tod auf steilem Berge, S.219 mit Fn. 120-124
[62] Die unglaublichen Details der Geburt von Anna-Andrea werden bei Harpprecht eindrucksvoll geschildert, S.179
[63] Werner Maser, Poelchau. Pfarrer am Schafott der Nazis. Der authentische Bericht des Mannes, der über 1000
Opfer des Hitler-Regimes auf ihrem Gang zum Henker begleitete, Rastatt 1982
[64] Vgl. den Beitrag von Hans Storck in: Poelchau, Ordnung der Bedrängten, S. 241 ff, 247
[65] Harpprecht, Poelchau, S.158
[66] Moltke, Briefe an Freya, S.50, 596
[67] Rüdiger von Voss, Gerhard Ringshausen (Hsg), Die Predigten von Plötzensee. Zur Herausforderung des modernen Märtyrers, Berlin 2009, S.76
[68] Im Rahmen eines Projekts von Katrin Hattenhauer formierte sich Ende September 2017 eine Projektgruppe, an der unter anderem auch zehn Inhaftierte der JVA Tegel teilnahmen.
Im Auftrag des Evangelischen Landeskirchenamtes Bayern und des Katholischen Schulkommissariates Bayern