Die Ausstellung »Aus Worten können Wege werden« ist das Ergebnis eines Fotowettbewerbs, der anlässlich des zwanzigjährigen Jubiläums der »TelefonSeelsorge im Internet« ausgeschrieben wurde. Herzlichen Dank an die Fotografen, die uns ihre Bilder zur Verfügung gestellt haben.
»Du sollst leben« – das ist der Gründungsgedanke der Telefonseelsorge. Zeitgleich fast wurde an verschiedenen Orten in England schon 1953 das Telefon als Mittel der Suizidprävention eingeführt. Eine Idee war verwirklicht, die Europa verändern sollte und die dazu führte, dass die erste deutsche Telefonseelsorge 1954 in Berlin ins Leben gerufen wurde. Damals hieß sie »Ärztliche Lebensmüdenberatung«. Hilfe und Beistand in Krisen, besonders in suizidalen, zu geben, das ist das Anliegen der Telefonseelsorge bis heute geblieben.
Die konkrete Telefonseelsorgestelle mag mehr oder weniger konfessionell, mehr oder weniger ökumenisch organisiert sein, ihr Anliegen ist das gleiche: dem Leben der Anrufenden zu dienen.
Ein Blick in die Telefonstatistik (2016) zeigt, dass das Thema Suizid bei 1 644 410 Kontakten mit 13 719 Nennungen wenig vertreten ist. Pro Tag gehen knapp 38 Anrufe ein, in denen über Suizidabsichten, Suizidversuche und Suizide gesprochen wird. Die meisten Anrufe kreisen um die Themen Einsamkeit, Beziehungs- und Familienkonflikte, Stress und Differenzen am Arbeitsplatz oder Belastungen, die psychische Erkrankungen mit sich bringen. Das Leben in all seinen Facetten wird am Telefon, in Mail und Chat besprochen.
Dass Leben ein bisschen mehr gelingen kann, die Hoffnung nicht stirbt oder wieder keimt, Wege sichtbar und gangbar werden, sind ebenso Aufgaben der Telefonseelsorge wie das Aushalten und Mittragen von solchem Leid, dessen Ursachen nicht verändert werden können. Dann besteht der Trost in der ersten und unmittelbar menschlichen Reaktion, die Hiobs Freunde erbrachten (Hiob 2,11f): im Anteil nehmenden Dasein.
Nach der Gründung in Berlin entstanden in rascher Folge in anderen deutschen Großstädten Initiativen zur Errichtung einer Telefonseelsorge. Auffallend nahmen Isolation und Entfremdung besonders in den Ballungsräumen zu. Ein Sinnverlust, dem das Wirtschaftswunder nur vordergründig entgegenwirken konnte, das Zerbröckeln traditioneller sozialer und kirchlicher Strukturen, sowie die zunehmende Zahl privater Telefonanschlüsse führten zu meist kirchlichen Initiativen und zur Gründung von Telefonseelsorge-einrichtungen. Das Angebot bestand darin, niederschwellig, rasch und anonym ein helfendes Gespräch führen zu können. In den späten siebziger und frühen achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstand in der alten Bundesrepublik ein flächendeckendes Netz von Telefonseelsorgestellen und auch in der DDR gab es vom Regime kritisch beobachtete Initiativen.
Vom Krisen- und Suizidpräventionstelefon entwickelte sich die Telefonseelsorge zu einer Generalistin, bei der jede Sorge und jedes Problem besprochen werden kann. Ursachen für dieses neue Selbstverständnis waren die Bedürfnisse der Anrufenden, die sich mit allen Lebensthemen meldeten, und das Verständnis von Seelsorge, das dem Raum geben will, was in den Herzen der Menschen als Belas-tung da ist. Während immer neue Spezialtelefone in den letzten Jahrzehnten eröffnet worden sind, zeichnet die Telefonseelsorge diese Offenheit für alles und alle, »die mühselig und beladen sind«, aus. An die Telefonseelsorge kann man sich wenden, wenn man sich keiner der Kategorien zuschreibt, mit denen andere telefonische Beratungsangebote ihre Klientel definieren.
Die Statistik der Telefonseelsorge im Vergleich der letzten 25 Jahre zeigt einen enormen Anstieg der Kontakte. Der freilich sagt weniger über eine gestiegene Not in der Bevölkerung aus als über die höhere Verfügbarkeit des Angebots. Mehr Telefonseelsorgestellen, Kostenfreiheit der Nummer und lawinenartige Zunahme von Telefonanschlüssen, besonders im Mobilfunk, führten dazu, dass die Telefonseelsorge immer und von fast jedem Punkt in Deutschland erreichbar war. Oder auch nicht.
Mittlerweile garantieren 105 Stellen in Deutschland die rund-um-die-Uhr-Präsenz der Telefonseelsorge. Dennoch wurden um den Jahrhundertwechsel die Seelsorgerinnen und Seelsorger immer weniger erreichbar. Im Film »Jesus Christ Superstar« gibt es eine Szene, in der Jesus von der hilfesuchenden Volksmenge nahezu erdrückt wird. Da ruft er: »Ihr seid zu viele«.
Hinter dem Zuviel der Anrufe stand nicht unbedingt ein Zuviel an Personen. Manche Anrufer suchten durch dicht aufeinander folgende Telefonkontakte ein immer neues Ohr, während parallel hierzu die Qualität der Begegnung sank. Schlimmer freilich war, dass erfahrene Anrufende mehr Chancen hatten, jemanden zu erreichen, als Menschen in einer Krise, die nicht die Kraft haben, geduldig die Wahlwiederholungstaste zu drücken. Nach der ersten Herausforderung, wertzuschätzen, dass die Anrufenden Telefonseelsorge nicht nur als Krisen- und Suizidpräventionstelefon, sondern als Seelsorge- und Beratungstelefon für alle Lebenslagen begriffen, stand die Telefonseelsorge vor einem neuen Selbstvergewisserungsprozess. Wenn sie besonders in Notlagen und Suizidgefahr erreichbar sein will, musste sie ihre Erreichbarkeit wieder herstellen. Besonders dringlich wurde dies, als eine kleine aber hoch aktive Gruppe erotophoner Anrufer das System durch extrem viele Anrufe beanspruchte. Zum Schutz von Mitarbeitenden und um für Seelsorgegespräche da sein zu können, wurde eine Technik installiert, die den Herkunftsort des Anrufs ermittelt und ihn an die nächstgelegene Telefonseelsorgestelle weiter vermittelt.
Relativ früh wurde von der Telefonseelsorge erkannt, dass das Internet eine Chance für Seelsorge und Beratung durch anonymisierte und verschlüsselte Mail- und Chatseelsorge bietet. Ohne den Klang der menschlichen Stimme, auf das geschriebene Wort und Emoticons vertrauend, lässt sich noch niedrigschwelliger ein Kontakt knüpfen. Aus der Geschichte der Telefonseelsorge war es ein logischer Schritt ihr mediengestütztes Angebot nicht auf das Telefon zu beschränken, sondern – soweit der Datenschutz dies erlaubt – für die Menschen da zu sein. In der Internetberatung sind die Themen Suizidalität, selbstverletzendes Verhalten, psychotisches Erleben, sexualisierte Gewalt wesentlich häufiger als am Telefon. Die Ratsuchenden nutzen den größeren Schutzraum, um das zu verschriftlichen, was sie nicht oder nur schwer in Worte fassen können.
Am Telefon und im Internet erzählen Ratsuchende von ihrem Leben. Zur Sprache kommen aktuelle Konflikte. Carl Rogers hat darauf hingewiesen, wie hilfreich es ist, wenn Klienten sich selbst erzählen hören und über dieses Erzählen und die empathisch-spiegelnden Rückmeldungen der Therapeutin sich selbst und ihre Welt besser verstehen. Daraus kann eine Neukonstruktion der eigenen Wirklichkeit entstehen, in der Lösungspotentiale sichtbar werden. Eine Lösung muss nicht das Verändern der Situation sein, oft hilft es schon, eine neue Position zu ihr einzunehmen oder einnehmen zu können.
Wenn ein junger Mann anruft und erzählt, seine Freundin hätte »Schluss gemacht«, dann wünscht er sich möglicherweise von der Telefonseelsorge, dass sie ihm Ratschläge gibt, wie er die Freundin zurückgewinnen kann. Er mag sogar hoffen, die Telefonseelsorgerin ruft bei der Freundin an und bewegt sie, zu ihm zurückzukehren. Was die Mitarbeiterin am Telefon anbieten kann, ist weniger und mehr. Sie wird die Freundin nicht anrufen. Telefonseelsorge erbringt grundsätzlich keine konkreten Dienstleistungen, die über den Verweis auf andere Hilfsangebote hinausgehen. Wie wenig sinnvoll das in diesem Fall wäre, ist offensichtlich: ohne Erlaubnis in das Leben der ehemaligen Freundin eindringen und sie gegen ihren erklärten Willen überzeugen zu wollen – das wäre übergriffig. Was also kann die Telefonseelsorgerin in diesem Fall tun?
Sie kann aufmerksam die Verzweiflung des jungen Mannes anhören und mit ihm besprechen, was zu dieser Trennung geführt hat, wo er für sich Gelungenes und Vertanes oder Missglücktes in seiner Gestaltung der Beziehung sieht. Er kann mit ihr besprechen, was seine Ressourcen sind, also welche Fähigkeiten, welche Hobbys, welche Menschen er hat, um den Verlust verarbeiten und betrauern zu können. Die Telefonseelsorgerin wird vermeiden, den Anrufer zu be- oder zu verurteilen. Ihre Empathie, ihr Verstehen ist kein Einverständnis. Mag sein, dass der Anrufer überlegt, mit dem, was er Neues über sich und die Beziehung erfahren hat, ein klärendes und ergebnisoffenes Gespräch mit der Freundin zu suchen. Vor allem aber wird es in diesem Telefonseelsorge-Gespräch darum gehen, den jungen Mann zu stabilisieren. Seine Trauer und seine Verzweiflung dürfen sein, sie dürfen einen Platz finden im Mitfühlen der Telefonseelsorgerin. Seine Not wird nicht unmittelbar vergehen, doch er kann erkennen und lernen, damit umzugehen, auch wenn noch Grenzen bleiben.
Die meisten Anrufenden sind nicht allein, selbst wenn sie einsam sind. Viele sind einsam, weil sie in sozialen Bezügen, in Paarbeziehung, Familie oder Freundschaft leben, in denen Gemeinsamkeit und gegenseitige Unterstützung fehlen. Auch wer sich nicht entfremdet fühlt, über ein gutes und unterstützendes soziales Umfeld verfügt, kann sich an die Telefonseelsorge wenden. Er sucht einen neutralen Gesprächspartner, der nicht in Kenntnis der beteiligten Personen parteiisch ist, der keine eigenen Interessen vertritt und der – nach dem Gespräch – wieder aus dem Leben verschwunden ist. Wer bei der Telefonseelsorge anruft, kann anonym bleiben. Er braucht seinen Namen nicht zu nennen und seine Telefonnummer wird automatisch unterdrückt, so dass sie auf keinem Display und in keinem Datenspeicher erscheint. Wer sein Gesicht nicht zeigen muss, braucht auch keine Angst zu haben, es zu verlieren. Anonymität und Distanz, die das technische Medium erzeugt, ermöglichen, dass schnell Nähe aufgebaut werden kann. Anrufende trauen sich, offener über das zu reden, was sie bedrückt, wo sie selbst eigene Schuld und eigenes Versagen wahrnehmen, als sie es zu Beginn einer Therapie tun würden. Am Telefon geschieht Beziehungsarbeit. Der Telefonseelsorger kann nur sich selbst in die Waagschale des Gespräches legen. Das macht den Anruf eines Menschen in Suizidabsicht zur Chance. Wer bei der Telefonseelsorge anruft, will (noch) etwas vom Leben. Den Wunsch nach Beziehung, nach Kontakt, danach, in existentieller Verzweiflung gehört und ernst genommen zu werden, nimmt die Telefonseelsorgerin auf. Was in Suizidgefahr besonders wichtig ist, gilt für jedes Sprechen über Sorgen. Es geht ums Dasein, nicht um das Erteilen von Ratschlägen. Martin Buber hat Begegnung im Grundwort Ich-Du festgemacht. Emmanuel Levinas begreift das Ich als die Geisel des Anderen, dessen Antlitz es unmittelbar fordert. Wer der Andere ist, das ist nicht vorhersehbar, aber in der konkreten Situation eindeutig definiert. Jesus dreht im Gleichnis vom barmherzigen Samariter die Frage nach dem Nächsten um. Dem Anderen, dessen Not und existentielle Verzweiflung ich wahrnehme, werde ich zum Nächsten, indem ich den Ruf in die Unbedingtheit der Begegnung erfahre. Das Antlitz der Ratsuchenden bleibt am Telefon, in der Mail- und Chatseelsorge verborgen. Deutlich erfahrbar ist der Anruf, der in der Kontaktaufnahme erfolgt. Es ist ein schönes Wortspiel, dass das Telefonat als »Anruf« bezeichnet wird. In meinen Augen geht es um die Qualität der Begegnung. Im Gerufen-werden durch den anderen die Schwester oder den Bruder zu erkennen, der JETZT mich braucht; das ist die Aufgabe. Den Anruf zu hören, bedeutet in die Unbedingtheit der Gottesbegegnung gerufen zu werden. So wie es Samuel nicht leicht fällt, Gott als Rufer zu erkennen (1 Samuel 3, 1-9), so ist es für den Telefonseelsorger nicht immer leicht, im Anrufenden, den Herrn zu erkennen, der sich mit den Notleidenden identifiziert. Telefonseelsorge ist eine Quelle der Spiritualität im Alltag; dabei kann im Gespräch wahre »Epiphanie« erfolgen.
Im Alltagskontakt der Telefonseelsorge werden die Kolleginnen und Kollegen nicht solche Überlegungen anstellen. Sie werden präsent sein, so wie sie es in ihrer Ausbildung gelernt haben. Es gibt Hauptamtliche in der Telefonseelsorge, doch die konkrete Arbeit am Telefon machen ehrenamtliche Männer und Frauen. Ihre Ausbildung ist nach bundeseinheitlichen Standards geregelt. Sie umfasst mindestens 100 Stunden und besteht aus Informationen und vielen konkreten Übungen zur Gesprächsführung, aus Lehr- und Trainingseinheiten zum Ausnahmezustand, in dem sich Menschen in Krisen – besonders in suizidalen Krisen – befinden, und aus persönlichen Selbsterfahrungselementen. Wer andere verstehen will, ist auf die Bemühung, sich selbst zu verstehen, verwiesen. Das ist für einen Teil der neuen Kolleginnen und Kollegen zunächst irritierend, weil sie sich bei der Telefonseelsorge engagieren wollen, um anderen zu helfen. Nach den ersten Einheiten wird schnell erkennbar, wie wertvoll der Blick auf sich selbst und die anderen in der Gruppe ist, um später einmal Anrufende empathisch, wertschätzend, authentisch und veränderungsneutral begleiten zu können. Eine neue Generation von Ehrenamtlichen fragt deutlicher nach dem Nutzen, den die Arbeit ihnen bringt. Sie suchen gezielt nach vertiefter Selbsterkenntnis, nach spiritueller Verwurzelung, aber auch nach Kommunikationstools, die sie in beruflichem oder bürgerschaftlichem Kontext anwenden können. Es gibt viele Pfarrgemeinderatssitzungen, die – ohne es zu wissen – vom Handwerkszeug der Telefonseelsorge profitieren. Dass der Dienst rund um die Uhr, während Ferien und Grippewellen aufrecht erhalten werden kann, ermöglichen in Deutschland rund 8000 Ehrenamtliche. Die Belastungen, mit der die Einzelne aus dem Dienst geht, können beachtlich sein. Es gibt im besten Sinn des Wortes in vielen Gesprächen Routine und Professionalität. Anrufe, die unter die Haut gehen und die die Kolleginnen und Kollegen nach dem Dienst begleiten, gibt es ebenso. Massive Gewalt, sexueller Missbrauch, das Leiden an chronifizierten psychischen Erkrankungen, Suizidgespräche, in denen kein Funken Hoffnung entfacht werden konnte, sind Themen, die in der Gruppensupervision einen Ort finden. Das Scheitern als urmenschliche Erfahrung findet sich auch in der Arbeit der Telefonseelsorge. Es will spirituell begriffen werden, wenn jemand dauerhaft den Dienst am Telefon machen will. »Shit happens« reicht als Lebenshaltung dafür nicht aus. Supervision, thematische Fortbildungen, Persönlichkeitsbildung und spirituelle Angebote sollen die Mitarbeitenden vor Burnout, Selbstausbeutung, narzisstischen Größenphantasien oder einem Dasein als hilfloser Helfer schützen.Die Telefonseelsorge ist weiblich; das gilt für die Mehrzahl der Anrufenden und ihre Mitarbeiterschaft. Für die Kolleginnen ist es lästig, aber mitunter auch belastend, mit erotophonen Anrufen konfrontiert zu werden. ‘Obszöne Anrufe’ kommen nicht nur bei der Telefonseelsorge vor. Doch die zugesicherte Anonymität des Anrufers macht es gefahrlos, sich mit eindeutig sexuellen Absichten zu melden. Im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts hat man sich viele Gedanken gemacht zum Umgang mit diesen wenigen, aber sehr aktiven Anrufern. Es gilt, Strategien zu entwickeln, um die Psychodynamik des ‘Sexanrufs’ zu verstehen. Mittlerweile ist der Diskurs darüber weitgehend verstummt. In den im psychoanalytischen Sinne (R. Stoller) perversen Anrufen muss die Würde der Telefonseelsorgerin bewahrt werden. In Anschluss an Martin Buber kann man formulieren, dass das Angebot der Begegnung, die Erfahrung des Du nicht gesucht, sondern »Vergegnung« geschaffen wird, indem das Du zum Objekt der Manipulation werden soll. Das Grundwort Ich-Es unterscheidet sich nach Buber vom Grundwort Ich-Du fundamental. Zwischenmenschliche Begegnung wird verunmöglicht. Die Telefonseelsorge befähigt die Kolleginnen, mit solchen Telefonaten souverän umzugehen, um ihre eigene Würde zu wahren. Echte Begegnung ist nur möglich, wenn sich die Partner mit Respekt gegenübertreten. In vielen Gesprächen ist es Aufgabe der Telefonseelsorge, Anwältin der Würde der Anrufenden zu sein. Denn in ihrem Alltag erfahren sie, wie ihnen durch Gewalt, Missbrauch, Verachtung oder Ausgrenzung die Würde genommen wird.
Wie jedes zwischenmenschliche Angebot kann auch das der Telefonseelsorge pervertiert werden. Dann muss die Kollegin um Ihrer selbst und der Institution willen klärend und abgrenzend tätig werden. Sie steht damit – ohne sich dessen bewusst zu sein – in der Nachfolge Jesu, der zu Judas sagt: »Mit einem Kuss verrätst du den Menschensohn« (Lk 22,48). So wie er mit diesem Wort Herr des Geschehens wird, wird die Telefonseelsorgerin durch ihr aktives Handeln Subjekt, das sich dem Versuch der Objektivierung entzieht.
Religiöse Themen im engeren Sinn kommen bei der Telefonseelsorge selten zur Sprache. Seelsorge aber steht in der Pflicht, dem Leben zu dienen und den liebenden Herrn zur Sprache zu bringen, um am angebrochenen Gottesreich mitzuarbeiten. Die Frage nach dem, was oder wer Sinn und Halt im Leben geben kann, ist in den meisten Gesprächen gestellt, wenn auch auf nicht thematische Art und Weise. Sie ist versteckt in den Sorgen und Ängsten der Anrufenden. Die Wesensvollzüge der Kirche, Diakonia, Martyria und Leiturgia, sind gleichwertig. »Auch in der Diakonia ist die Kirche sozusagen unfehlbar, weil in jeder Tat der Nächstenliebe Christus selbst geliebt wird und umgekehrt durch jede selbstlose Tat der Nächstenliebe sich in der Welt die Liebe Gottes zum Menschen ‚inkarniert’.« (Gerhard Ludwig Müller) Telefonseelsorge als diakonisch-caritativer Wesensvollzug der Kirche macht sich im Sinne einer missionarischen Seelsorge auf, die Anderen zu hören, ihre Fragen als Anfragen und Herausforderungen für das Christsein in unserer Zeit zu begreifen. Es werden keine vorschnellen christlichen Sinnantworten angeboten, sondern im Miteinander-Unterwegssein wird Sinn erfahren und werden Wunden geheilt. Telefonseelsorge ist das, was Papst Franziskus als Bild für die Kirche sieht: ein Feldlazarett.
Wenn Seelsorge bedeutet, dem Raum zu geben, was beim andern da ist, und die Wunden zu versorgen, dann ereignet sich in den Gesprächen am Telefon ein Fetzen vom Reich Gottes.
Dr. theol. Friedrich Dechant
ist Leiter der Ökumenischen
Telefonseelsorge Nordoberpfalz.
Im Auftrag des Evangelischen Landeskirchenamtes Bayern und des Katholischen Schulkommissariates Bayern