In diesem Jahr dürfen erstmals 16jährige bei den Europawahlen ihre Stimme abgeben. Ein gutes Signal für die jungen Menschen. Sie sind gefragt. Es geht bei Wahlen auch immer um Zukunftsfragen, die sie und alle betreffen. Was brauchen Jugendliche, um sich in dieser demokratischen Mitverantwortung zurechtzufinden?
Leoni wird immer zur Klassensprecherin gewählt. Einige Schülerinnen und Schüler haben sich bei ihrem Lehrer beschwert, weil sie nie gewählt werden. Sie verlangen einen regelmäßigen Wechsel der Person in diesem Amt. Jede und jeder soll einmal Klassensprecher:in werden können, damit auch immer wieder andere Schülerinnen und Schüler im Schülerrat vertreten sind. Was soll die Lehrperson tun? Einen Klassenrat einberufen, um gemeinsam Interessen, Bedürfnisse und Regeln des Zusammenlebens in der Schule zu besprechen? Die Schulleitung fragen, wie man damit umgehen soll? Beim Kaffee im Lehrerzimmer Meinungen einholen und dann eine Entscheidung in der Klasse bekannt geben? Wie können auch Eltern einbezogen und Erfahrungen der außerschulischen Lebenswelt als Ressource für Demokratiebildung genutzt werden? Auch hier sehe ich Erwachsene außerhalb der Schule in Verantwortung.
Schulen bieten im Blick auf die Einübung demokratischer Verfahren viele Gelegenheiten. Alle Beteiligten tun gut daran, Möglichkeiten zum demokratischen Lernen im Schulleben zu nutzen. Um mit Kindern in der Grundschule über demokratische Verfahren und Prinzipien ins Gespräch zu kommen, eignet sich z.B. die Fabel vom Billabongkönig1. Das Bilderbuch von Matthias Körner führt in Fragen des Zusammenlebens und des Umgangs mit Macht ein. Für Grundschulklassen ein geeigneter Zugang, der Wege für demokratische Bildung in dieser Altersstufe eröffnen kann. Es braucht Kraft, Differenzen auszuhalten, und es gibt in jeder Schule einen breiten Raum von Einstellungen auch in der Lehrerschaft – auch das gehört zum Konfliktfeld Demokratie und führt zu guten Übungen des Miteinanders.
Der Mut der Studierenden auf dem Tian’anmen-Platz in Peking hat mich damals beeindruckt. Auf dem Platz am Tor des Himmlischen Friedens haben sich Studierende zu friedlichen Protesten versammelt, um für Reformen und eine gesellschaftliche Öffnung zu demonstrieren.
Am 3. und 4. Juni 1989 schlug das chinesische Militär im Zentrum Pekings gewaltsam die Proteste der Bevölkerung nieder. Amnesty International berichtet damals, dass zwar auf dem Platz selbst keine Menschen starben, in anderen Teilen der Stadt aber Protestierende ihr Leben verloren.
Auch in unserm Land demonstrierten viele öffentlich aus Solidarität mit den Menschen in China. Ich konnte 1989 mit anderen auf die Straße gehen, ohne etwas zu riskieren … und wenige Monate später erlebten wir in Deutschland, was mutige Menschen durch friedliche Proteste bewegen können. Die Mauer fiel, ohne Blutvergießen!
Im Mai 2024 wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. Ein Grund zu feiern. Ich spüre eine große Dankbarkeit, dass ich in einem Land leben kann, das eine solche Verfassung hat. Die Grundrechte setzen zu Beginn einen klaren Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. Die Menschenwürde ist unantastbar, und die weiteren Menschen- und Freiheitsrechte bilden das Vorzeichen für die folgenden Artikel. Die bitteren Erfahrungen mit einer menschenverachtenden Ideologie motivierte die Verfasser:innen des Grundgesetzes, diese Artikel voranzustellen. Dieser Wertekonsens ist seither die Grundlage unseres Zusammenlebens.
Das provozierende Auftreten von Rechtspopulisten und Rechtsextremen sind Teil des Alltages in unserer Gesellschaft, das wirkt auch in Schulen hinein. Dieses Thema auszublenden und sich auf eine vermeintliche Neutralitätspflicht der Lehrpersonen zurückzuziehen, wäre fatal. An den Schulen braucht es demokratische Bildung, die die sichtbaren Bedürfnisse und geäußerten Positionen kritisch aufnimmt. Dabei sind alle gefordert, ihren Beitrag zu leisten, denn die Delegation dieser Bildungsaufgabe in bestimmte Fächer im Sinne einer Arbeitsteilung führte zu einer Überlastung einzelner Menschen. In allen Fachbereichen sollte das Grundanliegen einer demokratischen Schule durchscheinen. Lehrpersonen müssen ansprechbar sein und Haltung zeigen, wenn Fragen auftauchen, die das Zusammenleben berühren.
Dort, wo menschenfeindliche und rassistische Äußerungen fallen, ist klare Kante gefragt. Die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie zeigt sich auch darin, dass Grenzen der Toleranz aufgezeigt werden.
Kennen Sie den Platz der Verfassungsfreunde? Bei einem Besuch in Offenburg habe ich ihn kennengelernt. Ein Platz in der Mitte eines alten Kasernengeländes. Er erinnert an die mutigen Anfänge der demokratischen Bewegung in Baden. Im Gasthof „Zum Salmen“ trafen sich demokratisch gesinnte Bürgerinnen und Bürger, um die Rücknahme der Karlsbader Beschlüsse von 1819 zu fordern: Pressearbeit ohne Zensur und schulische Bildung für alle gehörten zu den wichtigen Forderungen. Die Versammelten nannten sich Freunde der Verfassung. Ein Name, den sich die badischen Demokraten als wichtige Vordenker gaben. Zugleich erinnert er uns daran, wie lange und mühsam der Weg in die Demokratie in unserem Land dauerte.
Unser Grundgesetz braucht nicht nur Gratulanten am 23. Mai 2024, sondern Freunde, die es täglich mit Leben füllen.
Wenige Tage nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 mit hunderten Opfern kommt es zum Einmarsch israelischer Truppen in den Gazastreifen. Lehrerinnen und Lehrer erleben, wie Aufnahmen von Opfern und Gräueltaten in den sozialen Medien ihre Schüler:innen aufwühlen.
In solchen Situationen fordern einige Jugendliche die Pädagoginnen und Mitschüler zur Positionierung auf. Auf welcher Seite steht ihr? Israelis oder Palästinenser? Terror und Gewalt vergiften auch das Zusammenleben in unserer Gesellschaft. Die Ereignisse machen manche sprachlos, gleichzeitig fordern sich auch heraus. Wie können sich Lehrpersonen in dieser Situation verhalten, ohne den Mechanismen der Polarisierung zu erliegen?
Wichtig ist in diesem Zusammenhang mit Schüler:innen danach zu fragen, woher wir verlässliche Informationen bekommen.
Zur Meinungsbildung ist dazu die News-App Buzzard 2 hilfreich, die einen hervorragenden Überblick zu aktuellen politischen Themen bietet und gut geeignet ist, jungen Menschen Hilfestellung zu geben, einen eigenen Standpunkt zu finden. Die Redakteure von Buzzard wollen in einer Zeit, in der Menschen immer mehr in ihren Denkmustern verharren und Verschwörungstheorien soziale Netzwerke überfluten, dazu beitragen, dass Menschen den Überblick behalten, verschiedenste Perspektiven prüfen und einordnen können.
In der politischen Bildung hat sich der Beutelsbacher Konsens 3 als pädagogischer Leitfaden etabliert. Im Unterricht soll Indoktrination vermieden werden, eine klare Schülerorientierung im Vordergrund stehen und zugleich ein offener Meinungsaustausch möglich sein.
Zum einen soll niemand im schulischen Kontext durch Positionen der Lehrpersonen überwältigt werden, vielmehr braucht es eine offene Atmosphäre, um auch kontroverse Positionen zu besprechen. Es ist wichtig, junge Menschen zu ermutigen, kontroverse Diskussionen auszuhalten und zugleich deutlich gegen menschen- und verfassungsfeindliche Haltungen Position zu beziehen. 4
Jetzt ist die Zeit, klare Kante zu zeigen, den Diskurs aufrechtzuhalten und den Zusammenhalt der Demokraten zu stärken. Auch in den Schulen gilt es, den Impuls unserer Verfassung aufzunehmen und für die Grundrechte und deren Verwirklichung gemeinsam einzutreten.
Obwohl unser Gemeinwesen in einer guten Verfassung ist, braucht es doch unser aller Aufmerksamkeit und Courage, wenn demokratische Werte verletzt werden.
Demokratische Gesellschaften bieten Räume und Regeln zur Bearbeitung von Konflikten. Klassenrat und Schülerparlamente sind wichtige Formen des Zusammenlebens in unseren Schulen, um junge Menschen früh an demokratische Verfahren heranzuführen und Teilhabe an Entscheidungsprozessen zu ermöglichen. Die Suche nach Kompromissen ist die gemeinsame tägliche Übung. Die Herausforderung, die ich sehe: Miteinander in Schulen den Gemeinsinn und den Zusammenhalt einzuüben, das zu leben, was gesellschaftlich, politisch wie medial auseinanderdriftet. Den demokratischen Zusammenhalt als Prozess zu erfahren, die Vielfalt und Widersprüche gemeinsam auszuhalten, Kompromisse zu suchen, um nicht den populistischen Parolen auf den Leim zu gehen.
Meinungsverschiedenheiten gehören dazu, unterschiedliche Lebensformen, verschiedene religiöse und kulturelle Prägungen sind Bereicherung und Aufgabe zugleich.
Unser demokratischer Verfassungsstaat bietet einen rechts- und sozialstaatlichen Rahmen für den Interessensausgleich. Kritik ist möglich und erwünscht. Die repräsentative Demokratie bietet Verfahren zur Zieldiskussion und Abstimmung über alternative Handlungsoptionen. Das verlangt Geduld und die Bereitschaft einander zuzuhören.
Dass antidemokratische und rechtextremistische Positionen zunehmen, ist eine Realität auch in Klassenzimmern. Hier ist ein offener und zugleich klarer Umgang gefragt. Die Neutralitätspflicht, die von Rechtspopulisten immer wieder angemahnt wird, soll Pädagoginnen und Pädagogen hindern, ihre Verantwortung im Rahmen der Demokratiebildung wahrzunehmen.5
Die erfreulichen Proteste gegen rechtspopulistische und rechtsextremistische Bewegungen weisen darauf hin, dass eine Mehrheit spürt, wie Werte unserer Gesellschaft gefährdet sind. Damit ist klar, dass es in unseren Schulen eine grundlegende Wertevermittlung braucht. Sie geschieht auch im Religionsunterricht. Wir haben in Europa prägende Werte: Freiheit, die die Freiheit des anderen achtet, Nächstenliebe, die sich ohne Vorbehalt zuwendet, Frieden, der alle einbeziehen will, Gerechtigkeit, die die Anliegen der Benachteiligten sieht – alle diese Werte haben ihre Wurzeln im christlichen Glauben und finden dort auch ihre Nahrung. An diese Grundlagen muss auch in der politischen Öffentlichkeit Europas immer wieder erinnert werden angesichts der Debatten um Asylpolitik, Migration, Armutsbekämpfung und Klimaschutz.
Gerade der Religionsunterricht fördert eine Selbstfindung der jungen Menschen, die zugleich die Beziehungsfähigkeit miteinschließt. 6
Den Dialog suchen: Der Religionsunterricht ist ein Lernraum für interreligiöse Verständigung und für ein friedliches Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft. Durch Information und Austausch werden Zerrbilder von Religionen aufgelöst und Toleranz und Verständigung angebahnt.
Der Religionsunterricht sensibilisiert gegen fundamentalistische und extremistische Formen von Religion, indem die Beteiligten Abgrenzungen verstehen und Grenzen setzen lernen.
Religionsunterricht motiviert als Teil aller schulischen Fächer, mit anderen gemeinsam Verantwortung zu übernehmen und unseren Lebensraum zu gestalten. Die Frage nach richtigem und falschem Verhalten ist immer wieder neu zu stellen, sie braucht Werte und Orientierung für verantwortliches ethisches Handeln jenseits eines verkürzenden Schwarz-Weiß-Denkens.
Jetzt ist die Zeit für Verfassungsfreunde, die als Demokratinnen und Demokraten in der Öffentlichkeit in Schulen, in Vereinen, Parlamenten und auf öffentlichen Plätzen Ihre Haltung zeigen – für eine wehrhafte Demokratie und ein weltoffenes, menschenfreundliches und vielfältiges Deutschland in Europa.
Autor: Dr. Jürgen Belz, Direktor des Religionspädagogischen Zentrums Heilsbronn
Fotoserie: »Gespenster am Horizont« (Agnes und Christoph Ranzinger, 2023)
1 Matthias Körner, Der Billabongkönig, Weinheim 2022.
2 https://www.buzzard.org/ (aufgerufen am 12.4.2024)
3 https://www.bpb.de/die-bpb/ueber-uns/auftrag/51310/beutelsbacher-konsens/ (aufgerufen am 12.4.2024)
4 Hervorragendes Material zur Demokratiebildung an Schulen findet sich u.a. in Uki Maroshek-Klarman, Saber Rabi: Mehr als eine Demokratie -Sieben verschiedene Demokratieformen verstehen und erleben – 73 Übungen nach der „Betzavta“-Methode, Gütersloh 2022 (4. Auflage); außerdem bietet die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik e.V. www.degede.de zahlreiche praxisorientierte Hilfen für die Arbeit zum Thema Demokratiebildung.
5 Vgl. https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/544538/antidemokratische-positionen-und-einstellungen-in-schulen/ (aufgerufen am 11.4.2024)
6 Vgl. https://www.rpz-heilsbronn.de/grundlagen-und-amtliche-verlautbarungen/bildung-braucht-religion-religion-braucht-bildung/ (aufgerufen am 8.4.2024)
Im Auftrag des Evangelischen Landeskirchenamtes Bayern und des Katholischen Schulkommissariates Bayern