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Alpenraum und Verschwörungsdenken  
Ausgabe: 191b/2021

Alpenraum und Verschwörungsdenken

Querdenken entstand nicht zufällig in Stuttgart

 

Michael Blume

 

 

 

 

Das Mittelmeer ist nicht ewig, sondern der Rest des Urozeans Thetys. In nicht einmal 100 Millionen Jahren werden Afrika und Europa verschmolzen sein. Die Macht der einander begegnenden Kontinentalplatten versieht Italien schon jetzt mit dem Apennin und Mitteleuropa mit dem Alpenbogen. Die Bedeutung dieser Gebirgsmassive und der benachbarten Regionen werden in der Berliner Republik leider noch meist unterschätzt, spielen aber gerade auch im Judentum eine große Rolle. So feiern wir in diesem Jahr deutschlandweit das Jahr 1700 Jahre jüdisches Leben – nördlich der Alpen. Aus dem Jahr 321 n. Chr. haben wir durch Kaiser Konstantin I. nicht nur die erste Verfügung zum Sonntag als Tag der Arbeitsruhe, sondern auch den ersten urkundlichen Beleg für eine jüdische Gemeinde in Köln. Nach einem Enkel des Noahsohnes Japheth wurde das Gebiet nördlich der Alpen später als „Aschkenas“ bezeichnet und wiederum zur Selbstbezeichnung des bis heute prägenden aschkenasischen Judentums. Der spätere Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808 – 1888) soll sogar einmal gesagt haben: „Wenn ich vor Gott stehen werde, wird der Ewige mich fragen: “Hast du meine Alpen gesehen?“

Vom Mittelmeerraum aus breiteten sich das Christentum und die Kulturen des heutigen Europa über die Alpen hinweg aus. Bedeutende Zentren wie Rom, Köln, Paris, Madrid, London, Berlin, Warschau, Kiew und Prag entfalteten ihre Ausstrahlung. Die Alpen und Voralpen selbst erschienen vielen daher oft nur als Durchzugsgebiet, dabei reichten ihre Siedlungen und der Bergbau schon bis tief in die Bronzezeit zurück. Und so entstanden eigene, alpine Traditionen der Selbstverwaltung, aber auch der Obrigkeitskritik. 

 

 

Nie war ein kirchliches Konzil „parlamentarischer“ als jenes von Konstanz. Umberto Eco siedelte seine aufsässige Abtei bewusst im nördlichen Apennin an, dem auch die Franziskaner entsprangen. Die Schweiz wurde zu einer der ersten Demokratien der Erde, das heutige Norditalien zur Wiege selbstbewusster Städte, von Wien aus erwuchs ein (wenn auch instabiler) Vielvölkerstaat und die süddeutschen Könige von Württemberg, Bayern und Sachsen verweigerten sogar noch die Teilnahme an der Kaiserkrönung von Versailles. Ebenso wandte sich die CSU gegen die Verschmelzung in der bundesweiten CDU. Die Süddeutsche Ratsverfassung mit der Direktwahl der Gemeinderäte und Stadtspitzen startete von Baden-Württemberg ihren Siegeszug.

 

Der Süden brachte bedeutende Traditionen des Christentums wie die Täuferbewegung (anfangs als „Anabaptisten“, Wiedertäufer verfolgt) und den Calvinismus hervor. Hier entstanden Schulen des Liberalismus wie die Österreichische und Freiburger Schule, vor allem aber der immer wichtiger werdende Fallibilismus von Karl Popper. Der Ulmer Albert Einstein reüssierte als Patentbeamter in Bern und der Gründungskongress zum Staat Israel fand in Basel statt.
Doch neben und oft mit den obrigkeitskritischen und so fruchtbaren Ansätzen breiteten sich auch esoterische und nicht selten antisemitische Verschwörungsmythen aus. So wurde die Alpenregion auch zu einem Schwerpunkt des europäischen Platonismus, nach dessen Höhlenmythos wir Menschen angeblich von bösen Gauklern in einer Täuschung gefangen seien, aus der wir auch unter Einsatz von Gewalt befreit werden müssten. Zahlreiche ganz unterschiedliche esoterische Gruppen von Schwabing bis zum „Monte Verita“, der kurzlebige

Illuminatenorden von Ingolstadt, die – von der Theosophie abgespaltene – Anthroposophie mit dem Goetheaneum in der Schweiz und der ersten Waldorfschule in Stuttgart über die „Münchner Subversive Aktion“ bis hin zur heutigen, antisemitischen „Organische Christusgeneration (OCG)“ um den Schweizer Sektengründer Ivo Sasek entsprangen dieser vielgestaltigen Tradition. Antisemitische Legenden, Geißlerzüge, Pestpogrome und Hexenverbrennungen hatten Schwerpunkte und oft sogar Ursprünge im süddeutschen Raum. Die Universität Tübingen heißt noch immer nach einem Grafen, der alle Juden vertreiben ließ. Nietzsche verkündete seine sprachmächtige Republikverachtung und seine antifeministischen, antijüdischen und antichristlichen Verschwörungsmythen von den Alpen herab. Gegen das erste Reichsimpfgesetz von 1874 formierte sich früher Widerstand vor allem in Stuttgart und Leipzig. Schließlich griffen antisemitische Politiker und Parteien wie Karl Lueger, Georg von Schoenerer und sein „Alldeutscher Verband“ bis hin zum mörderischen 

Adolf Hitler und der genozidalen NSDAP je vom süddeutschen Sprachraum aus nach der Macht.
Zwischen klugem Selberdenken und bizarrem Querdenken, zwischen berechtigter Obrigkeitskritik und bodenlosen Verschwörungsmythen, zwischen Skepsis auch gegenüber Wissenschaften und dem menschenverachtenden Glauben an eine „zionistische Weltverschwörung“ war und ist der Grat leider im erweiterten Alpenraum oft besonders schmal. Ein Zug des Misstrauens gegen „die da Oben“ richtet sich gegen vermeintliche „Globalisten“, schnell fühlen wir uns verachtet.
Hinzu kommt, dass der regionale Wohlstand für Verschwörungsunternehmer besonders attraktiv ist. Schon im Mai 2020 war bei Querdenken711-Demonstrationen in Stuttgart davon die Rede, die Covid19-Pandemie diene der „Bargeldabschaffung“. Mit Geldgeschenken (ausdrücklich nicht: transparenzpflichtigen Spenden), den Verkauf von Esoterika, Gold, Busreisen, Merchandising und Finanzanlagen haben eine ganze Reihe von

Verschwörungsverkündern viel Geld verdient – und tun es noch. Süddeutscher Verschwörungsglauben kommt gerne bürgerlich, mit spirituellen Wortgirlanden und nicht selten mit auch akademischen Würden einher. Die Verfassungsschutz-Beobachtung gerade auch süddeutscher Querdenken-Gruppen kommt nicht von ungefähr.
Die Unterscheidung hilfreicher und abgründiger Lehren, Mythen und Impulse ist dabei keine Aufgabe, die wir Süddeutschen an irgendeine Zentrale abgeben könnten. Arrogante Herablassung aus „Preußen“, Berlin und

Hamburg würde die alten, regionalen Widerstände nur neu und zu Recht entfachen. Nein, hier sind wir selbst gefragt, mit der Erkenntnistheorie nach Karl Popper und den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaften, mit Kirchen, jüdischen Gemeinden und den eben auch selbstkritischen Traditionen der Alpenregion alles zu prüfen und nur das Gute zu behalten. Und welcher Beruf könnte dafür wichtiger und wirkungsvoller sein als jener der Lehrerin, des Lehrers?

 

 

Zum Autor:

Dr. Michael Blume ist Religionswissenschaftler und Beauftragter der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus. Zuletzt erschien von ihm „Verschwörungsmythen. Woher sie kommen, was sie anrichten, wie wir ihnen begegnen können“ bei Patmos.

Fotoserie:

Alpenquerung (Martina Brach)

Verantwortlich:

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Gestaltung: Christoph Ranzinger, Pauckerweg 5, 81245 München.