HomeOnline-AusgabenBuG 198 Verfolgt, verdrängt, vergessen - Zur Aktualität des Marine- und Kolonialoffiziers Hans Paasche (1881-1920)

Verfolgt, verdrängt, vergessen  
Ausgabe: 198/2023

 

Verfolgt,
       verdrängt,
               vergessen
Zur Aktualität des Marine- und
Kolonialoffiziers Hans Paasche (1881-1920)

                                                           Helmut Donat


21. Mai 1921. Fünfzig Soldaten, mehrere Offiziere, bewaffnet u.a. mit einem Maschinengewehr, umstellen das Gut „Waldfrieden“ in der Neumark, angeblich, weil hier Waffen vergraben sind für einen kommunistischen Aufstand. Hans Paasche spielt mit seinen Kindern am nahe gelegenen Tiefsee, nimmt ein Sonnenbad. Der Dorfpolizist holt ihn: „Ich muss Sie sprechen!“ Es geht um eine
Hausdurchsuchung, wird ihm gesagt. Als er sich, leicht bekleidet, seinem Haus nähert, sieht er die Soldaten. Er weiß, was ihm droht, dreht sich um, sucht im Zickzack-Lauf den Wald zu erreichen. Schüsse treffen ihn. Er ist sofort tot. „Auf der Flucht erschossen“, lautet das Ergebnis der amtlichen Untersuchung. Seit
den Morden an Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Kurt Eisner und Gustav Landauer eine mehr als ausreichende Rechtfertigung für rechte Lynchjustiz.

Kurt Tucholsky dichtet:

Ein toter Mann.
Ein Stiller.
Ein Reiner.
Wieder einer. Wieder einer.

Nicht ohne Grund erscheint Hans Paasche der politischen Rechten als ein gefährlicher Mann. Und nicht ohne Grund ist er heute weithin vergessen.

Wer war Hans Paasche? Warum wurde er ein Opfer rechter Lynchjustiz? »Er war Offizier gewesen, er hatte einmal gewagt, an der Gottähnlichkeit des militärischen Apparats zu zweifeln, und das verzeihen sie nie«, schreibt Tucholsky, und: »Hierzulande löst die soziale Frage ein Leutnant, zehn Mann. Pazifist ist der Hund? Schießt ihm nicht erst die Knochen wund! Die Kugel ins Herz! Und die Dienststellen logen: Er hat sich der Verhaftung entzogen.« Allerdings: Ein Haftbefehl hat nicht bestanden. Waffen hat man, außer den Jagdgewehren Paasches, nicht gefunden.
Der Kapitänleutnant a.D. ist ein Nestbeschmutzer, der in den Augen der alten und neuen Krieger die Ehre des deutschen Offizierskorps in den Dreck zieht, weil er die wilhelminische Kriegstreiberei bekämpft hat und weiter vor ihr warnt. Obwohl aus gutem Hause stammend – der Vater war Professor der Wirtschaftswissenschaften und brachte es zum Vizepräsidenten des Deutschen Reichstages – sieht man in Hans Paasche einen Störenfried. Der Marine- und Kolonialoffizier seiner Majestät begrüßt den Verlust der deutschen Kolonien:
»Die alte Kolonialpolitik stand mit den Wundern der Tropen und den Bildern nackter Neger im Zeichen alldeutschen Fühlens. Höherstehende Rasse, Herrenmenschen, Kulturpioniere brachten den minderwertigen Farbigen die Segnungen der Zivilisation. Der Wilde bekam das Vorrecht, geprügelt zu werden. Wer aber zählt die Tränen, die das kostete? Den Eingeborenen, den schwarzen, den weißen Frauen; aller Seele, aller Natur?«


„Vorwärts mit Gott!“
Karikatur aus der „NewYork Tribune, etwa 1915

Schon lange vor 1914 zieht es Paasche in die Welt hinaus. Er begeistert sich für die Seefahrt und schlägt, die Schule noch vor der Oberprima verlassend, eine Laufbahn als Marine- und Seeoffizier ein. Afrika, in dessen Seele er sich einzufühlen weiß, übt einen unwiderstehlichen Zauber auf ihn aus. Er lernt Kisuaheli, sucht die Begegnung mit den Indigenen. Gerade 24 Jahre alt, erhält Paasche als Offizier auf einem Kriegsschiff an der ostafrikanischen Küste 1905 den Auftrag, einen Aufstand im Landesinnern von Deutsch-Ostafrika niederzuschlagen. Da er auf Jagdausflügen gezeigt hat, dass er sich im Lande zu bewegen versteht, und weil er die Sprache jener Indigenen spricht, die sich gegen ihre Unterdrückung auflehnen, wird Paasche ausersehen, mit einer Matrosentruppe die bedrohten Weißen zu schützen.

Es kommt zu Zusammenstößen. Paasche bemüht sich, die Afrikaner durch Güte zu gewinnen und sie nicht zu weiterem bewaffnetem Widerstand zu reizen. Er hat damit Erfolg. Nicht aber bei den Militärs der deutschen Schutztruppen: Dort wünscht man Meldungen über gewonnene Gefechte und Heldentaten. Dafür ist man schließlich da. »Nach einigen Tagen«, erinnert er sich, »hatte ich ein großes Gefecht, einen richtigen militärischen Erfolg mit so und so vielen Toten, worüber freudig nach der Heimat berichtet wurde. Da lagen nun die blutigen und verstümmelten Leichen; Geier kreisten über den Sandbänken des Stromes, und ein ehrgeiziger Kamerad rief: ‚Jetzt ist uns das schwarz-weiße Band sicher!‘«
Aber ein deutscher General schließt keinen »Verständigungsfrieden«, solange noch der Feind vernichtet werden kann. Paasche beginnt angesichts des deutschen Kadavergehorsams und der Sinnlosigkeit des »kleinen« afrikanischen Krieges an sich als Offizier und an dem Militär schlechthin zu zweifeln. Wegen Tapferkeit gerade zum Kapitänleutnant ernannt, nimmt er seinen Abschied aus der kaiserlichen Marine.

In Deutschland ist er inzwischen ein bekannter Mann. Sein 1907 erschienenes Buch »Im Morgenlicht«, in dem er seine Kriegs-, Jagd- und Reiseerlebnisse in Ostafrika schildert, findet großen Beifall. Er ereifert sich für Gewaltlosigkeit, widerspricht auf öffentlichen Versammlungen denen, die lauthals verkünden, Deutschland brauche »mal wieder einen frischen, fröhlichen Krieg«. Und er tritt denen entgegen, die die farbigen Völker als »minderwertige Rassen« ansehen.
Im Dezember 1908 heiratet Paasche die junge Ellen Witting, die Tochter des angesehenen Bankiers Richard Witting, Bruder des weithin geschätzten und gefürchteten Publizisten Maximilian Harden. Die Hochzeitsreise führt das Ehepaar 1909/10 zu den Quellen des Nils. Monatelang halten sie sich in unerschlossenem Gebiet auf.

Auf der Safari lernt Paasche Lukanga Mukanga kennen, einen gebildeten, wissbegierigen Afrikaner, der bisher keine Begegnung mit Weißen hatte. Mit ihm führt er lange Gespräche. Die Beobachtungsgabe und die Schonungslosigkeit von Lukanga Mukangas Urteil über das, was ihm Paasche über die europäische Kultur, die Gewohnheiten und Sitten erzählt, bilden den Hintergrund für das populärste Werk Paasches. Im Auftrag des Königs von Kitara wird Lukanga Mukanga auf eine »Forschungsreise ins Innerste Deutschlands« geschickt. Er hat die Aufgabe, seinem König in Briefen mitzuteilen, wie die Weißen leben. Und er hat dem großmächtigen König zu berichten, ob es einen Herrscher in Europa gebe, der ihm gleiche, und ob ein von Menschen bewohntes Land mehr zu bieten habe als Kitara, das Land des gehörnten Rindviehs. »Es gibt kein solches Land, es gibt keinen solchen König«, erhält er als Antwort. Was Paasche an Deutschland zu kritisieren hat, lässt er den mit gesundem Menschenverstand und übersprudelnder Lebensweisheit ausgestatteten Lukanga Mukara in seinen Briefen schildern. Es gelingt ihm, sich derart in die Denkart eines Afrikaners einzufühlen, dass der Leser sich bei Erscheinen der Briefe 1912 fragt, ob diese echt sind oder nicht.
Manche Beobachtungen mögen heute überholt sein. Die wichtigsten Erkenntnisse aber, die Lukanga Mukara seinem König vermittelt, haben ihre Gültigkeit behalten. Er wendet sich u.a. gegen das »Essen von Tierkadavern«, das »Trinken ohne Durst« und das »Rauchstinken«, sein Schöpfer ist nicht nur Vegetarier, sondern auch Antialkoholiker und strikt gegen Nikotin. Und Paasche ist früher Anwalt einer von Zerstörung bedrohten Natur. Anlässlich des Bremer »Robbenmetzgerprozesses« von 1912 fordert er eine drastische Verminderung von Fangquoten. Pamphlete gegen die »Federmode«, der ganze Vogelarten in tropischen Ländern zum Opfer fallen, verschickt er in alle Welt und warnt im März 1914: »Die Vögel sind die natürlichen Vertilger derjenigen Insekten, die wir heute … als Überträger vieler Krankheitserreger kennen und bekämpfen. Wohl ist es dem Menschen in seine Hand gegeben, das, was seinem Geschoss Ziel bietet oder in seine Schlingen tritt, völlig zu vernichten. Macht er jedoch in Verblendung oder Leichtsinn davon Gebrauch, dann kommen die kleinen und kleinsten Lebewesen und fressen ihn auf.« Der Begriff Viren war damals noch nicht geläufig, aber wie aktuell solche Einsichten sind, braucht man vor dem Hintergrund der Corona-Krise wohl nicht zu erläutern.
Was Hans Paasche 1910 den Jägern nach gewinnbringenden Tierarten entgegengeschleudert, klingt wie ein Aufruf aus unseren Tagen: »Das Leid der geschändeten Natur«, schreibt er, »war niemals, seit die Erde besteht, so groß wie jetzt, unter der nichts schonenden Macht des Welthandels, des Verkehrs, der Industrie. Maßlos sind die im Nehmen, im Verschleppen und im Füttern ihrer Maschinen. Was irgend die Erde an lebender Schönheit und Pracht hervorbrachte, muss ihnen dienen. Solange noch eine Gazelle lebt, deren Fell auf dem Weltmarkt Wert hat, ein Wal im Eismeer, ein Paradiesvogel im Urbusch entlegener Inseln, solange ruht die geschäftige Betriebsamkeit nicht, gepaart mit menschenunwürdiger Gedankenlosigkeit und Kurzsicht ... Wo immer eine schützende Hand sich über lebende Naturschätze ausbreiten kann, da muss sie es jetzt tun.«
Dem mehr als lange Versäumten suchen heute Vereinigungen wie Greenpeace und die »Letzte Generation« entgegenzuwirken – und man kann nur hoffen: mit Erfolg. Ihre Kriminalisierung ist schon insofern unangebracht, weil der Notstand, gegen den sie sich wenden, mit den Händen zu greifen ist, täglich spürbarer wird und die Mächtigen und Regierungen viel zu wenig tun, um die immens voranschreitende Zerstörung der Lebensgrundlagen auf dem Planeten Erde mindestens so erträglich wie möglich zu machen.
Hans Paasche ist ein Denker von beklemmender Modernität. Er hat auch auf anderen Gebieten weit in die Zukunft geschaut, und so steht er uns Heutigen wohl viel näher als seinen Zeitgenossen. Anlässlich des Unterganges der Titanic (1912) geißelt er den Traumschiff- und Kreuzfahrttourismus und das damit verbundene »System der Vergnügung« als »falsch und frevelhaft«. Er spricht von einem »schwimmenden Jahrmarktsrummel«. Man glaube, »dem Reisenden etwas zu geben, wenn man ihn während einer Seefahrt durch alle Luxusräume hindurchlangweilt, die ein Ozeandampfer umfasst. Vom Speisesaal, wo üppig gegessen wird, durch den Palmengarten, ins Pariser Café, in die Bar, durch die Schreibzimmer, Rauchzimmer, Spielräume, Lesesäle. Und in Wirklichkeit hat man ihm die großen Eindrücke einer Seefahrt genommen.«
Ebenso wendet sich Paasche gegen die Verschandelung von Berglandschaften durch den  Ski-Tourismus sowie gegen die zum Gesellschaftssport erhobenen Jagden für abenteuerlustige Reisende, die den Savannen Afrikas das Tierreich streitig machten. Er schreibt gegen die Folgen des Großstadtlärms an, dem das Nervensystem der Kinder schutzlos ausgeliefert sei. Er tritt für Frauenstimmrecht und die Entlastung der Frauen von »Kindern und Küche« ein.

Wie die Weißen leben:
Lukanga Mukara übermittelt seine Kenntnisse an seinen König:

Rauchstinker unter sich
Illustration von Karl-Hein Eden
aus der Lukanga Mukara-Ausgabe 1984


Die Schlucker
Illustration von
Karl-Hein Eden 1984


Der Zahlenkarl
Karl-Hein Eden 1984

An der Bahre der Revolution:
»Sprecht leise, Herrschaften! –
Sie könnte am Ende nur scheintot sein.«
Holzschnitt von Ernest Kneil 1923

Als Mitbegründer des »Abstinenten-Bundes deutscher Offiziere« (1912) und Mitglied des „Guttempler-Ordens“ ist er führend im Kampf gegen den Alkoholismus und dessen Folgen – Tuberkulose, Verbrechen, Unzucht und Verbreitung von Geschlechtskrankheiten – tätig. Auch in der Lebens- und Bodenreform-Bewegung ist er aktiv. Sein rednerisches Talent und unkonventionelles Auftreten, seine Belesenheit und Gabe, andere mitzureißen, seine unnachahmliche Direktheit und Furchtlosigkeit, machen ihn zum Vorbild der »Jugendbewegten«. In der deutschen Jugend- und Wandervogelbewegung repräsentiert er den politisch-sozialkritischen Flügel. Im Oktober 1913 gehört Paasche zu den Führern des Treffens auf dem »Hohen Meißner« – und warnt vor einer Instrumentalisierung durch nationalistisch-militaristische Kreise und Denkmuster. Sein Engagement für ein allen Menschen gleichermaßen zukommendes einfaches und naturgemäßes Leben treiben ihn zu spektakulären Aktionen. Man spricht dann von einem »echten Paasche«. Als Vegetarier sucht er die besten Restaurants Berlins auf – um sich Wasser, Schwarzbrot, Apfelbrei und einen Pfannkuchen zu bestellen. Wenn andere Gäste etwa ein Nierengericht verspeisen wollen, geht er an den Tisch der »Kannibalen« und fragt: »Wie kommen Sie dazu, fleischerne Nachttöpfe zu essen?« Handelt es sich um Schinken, bemüht er den »gesalzenen Hintern einer Schweineleiche«.  

Bemerkenswert ist neben dem Wirken für Natur- und Tierschutz sein Engagement für soziale Gerechtigkeit und Frieden. Im August 1914 folgt er dem »Ruf der Waffen«, ist überzeugt, das Kaiserreich führe einen Verteidigungskrieg. Die Militärbehörden aber misstrauen ihm, schieben ihn auf den Posten eines Leuchtturmwärters von „Roter Sand“ ab. Später macht man ihn zum Kompanie-Führer einer Torpedo-Division in Wilhelmshaven. Paasche bleibt ein „schwieriger Untergebener“, legt seine Mannschaft trocken, hält Vorträge, ignoriert den Kastengeist der Offiziere. Ausdrücklich erklärt er seine Befangenheit, als über einen Matrosen wegen „aufreizender Reden gegen den Krieg“ Gericht gehalten wird. Paasche lehnt das ihm übertragene Richteramt ab – anders als jener NS-Marinerichter namens Hans Filbinger, der sich am Ende des Zweiten Weltkrieges für die Vollstreckung von Todesurteilen aussprach und später behauptete: „Was damals Recht war, kann heute kein Unrecht sein!“ Ist es doch, wie Hans Paasches Handeln zeigt. Seine Haltung: Was der Matrose gesagt habe, das habe er selbst oft vertreten, und dafür könne er ihn nicht bestrafen.
Nach weiteren Vergehen gegen die Militärherrlichkeit wird Paasche Ende 1916 endgültig aus der kaiserlichen Marine entlassen.

Er geht er in den politischen Untergrund. Längst weiß er, dass das Hohenzollernreich keinen Verteidigungs-, sondern einen Eroberungskrieg führt. Er verbreitet illegale Schriften, die die Schuld des kaiserlichen Regimes am Weltkrieg offenbaren, und er fordert die Arbeiter zum Generalstreik auf, die Rüstungsindustrie lahmzulegen. In seinem Flugblatt vom 22. April 1917 heißt es: »Mann der Arbeit aufgewacht! Und erkenne Deine Macht! Die Kanonen schweigen still, wenn Dein starker Arm es will!« Und an anderer Stelle verdeutlicht er: »Ein Ende des Kriegs gibt es nur, wenn auch die Generäle kein Essen mehr haben, und erst, wenn des Kaisers Söhne in Lebensgefahr wären, hört das Volk auf, Kanonenfutter zu sein. An jedem Tag Krieg wird die Welt ärmer an Menschen, Nahrung, Geld und Glück, er ist der eigentliche Landesverrat.« Er klagt damit auch seinen Vater an, der, »Geschäftspolitiker en gros«, verkündet: »Der Krieg kann mir nicht lange genug dauern, ich werde jeden Tag reicher!«

„Der Menschenwürde ins Gesicht“
Litographie von Max Deiters aus der
Sammlung Maike Bruhns
(frühe 1920er Jahre)

Anders sein Sohn, der den Ersten Weltkrieg als »Schändung des Evangeliums« begreift und dessen Sympathien dem »Erbfeind« gelten: den französischen Kriegsgefangenen, die auf seinem Gut arbeiten und für die er am 14. Juli 1917 die Trikolore hissen und die Marseillaise erklingen lässt. Er verspottet die Oberste Heeresleitung als »Oberste Gewaltleitung« und nennt den Misthaufen auf seinem Gut »Hindenburg«. Über Mittelsmänner in der Schweiz versucht er, Verbindung zu Papst Benedikt XV. aufzunehmen; er solle die kämpfenden Parteien, insbesondere alle gläubigen Christen, zur Einstellung der Feindseligkeiten und zum Niederlegen der Waffen aufrufen. Im Herbst 1917 wird Paasche verhaftet und gegen ihn wegen Hoch- und Landesverrats ermittelt. Aber dem eher peinlichen Prozess entgeht das Militär, indem es ihn für »geisteskrank« erklärt und in eine geschlossene Anstalt einweist.

Am 9. November 1918 wird Hans Paasche von revolutionär gesinnten Matrosen aus der Haft befreit, ins Hauptquartier der Räte gebracht und Mitglied des Vollzugsrates der Arbeiter- und Soldatenräte. Als deren Mitglied drängt er darauf, die Schuldigen am Krieg und die für die unnötige Verlängerung des Krieges Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Er hatte alles vorbereit, aber – so berichtet Kapitän zur See a.D. Lothar Persius – »alle Versuche, alle Beschwörungen, die Unterschriften von Ebert und Scheidemann unter die Haftbefehle zu bekommen, waren erfolglos«. Die Verantwortlichen bleiben ungeschoren und formieren sich neu. Auch Paasches Vorschlag, die »Puppen« der »Siegesallee«, die Denkmale preußischer Größen, in die Luft zu sprengen – als untrügliches Zeichen dafür, dass es vorbei ist mit »Preußens Gloria« und dem Militarismus in Deutschland – findet keine Mehrheit.

Enttäuscht vom Verlauf der November-Revolution zieht Paasche sich auf sein Gut »Waldfrieden« in der Neumark zurück. Als Vorstandsmitglied des pazifistischen »Bundes Neues Vaterland« begrüßt er 1919 in seinen Schriften »Meine Mitschuld am Weltkriege« und »Das verlorene Afrika« ausdrücklich den Verlust der Kolonien und fordert die Deutschen zu  radikaler Selbsterkenntnis auf: zu einer Abkehr von jedweder Politik der Gewalt und zur Abrechnung mit der militaristisch-imperialistischen Vergangenheit. Wie Heinrich Vogeler, im Februar 1918 wegen seines Friedensappells an Kaiser Wilhelm II., Schluss mit dem Krieg zu machen, ebenfalls in eine Irrenanstalt abgeschoben, spricht er sich für eine geistig-moralische Erneuerung aus und warnt: »Deutscher, du bist ausgestoßen aus der Gemeinschaft der Völker, wenn du nicht endlich Erbitterung zeigst gegen das System, das dich zum Henker deiner Nachbarn machte und dich schließlich selbst zerschunden hat. Du hast dich anstiften lassen, friedliche, glückliche Länder zu überfallen und in eine hoffnungslose Wüste zu verwandeln. Dein feldgrauer, animalischer Gehorsam hat das Elend, die Trauer und Kraftlosigkeit dieser Zeit herbeigebracht. Und du sprichst nur von deutschen Interessen, bevor du einmal die Tränen der Verzweiflung mitgeweint hast, die die ganze Menschheit beim Anblick der Landstriche, in denen wir Siegfried- oder Hindenburgstellung spielten … Jetzt erkenne deine Verführer, die Schuldigen des Weltkrieges, die Oberlehrer und Kriegspastoren, dies Gemisch von Biederkeit, Heuchelei und Opportunität, dies kriechende Untermenschentum mit Phrasenschwall … Der Ausländer wusste: Alles, was der Deutsche kann und hat, steht im Dienste brutaler Gewalt – und eines Tages braucht der eine, dem göttliche Weisheit zugeschrieben wird, nur auf den Knopf zu drücken, und alles Deutsche wälzt sich vernichtend über die Erde: Kanonen, Panzerplatten, chemische Industrie, Grenadierknochen, Philosophie, Menschenfleisch, Druckerschwärze, Zement. Ein wüster, feldgrauer Brei. Nichts ist in diesem Volke, was nicht noch größer wäre als in Verbindung mit dem Worte Krieg. Kriegsgeschichte, Kriegslyrik, Kriegsgötterei … Ob es nicht ein ganzes Gebäude von Wissen, Bildung, Weltanschauung ist, aus dem der Deutsche auswandern muss?«
Doch Hans Paasches Appelle »Ändert Euren Sinn!« – »Wer aber nicht auswandert aus seinem alten Menschen, der wird in keiner Steppe frei!« oder »Es gibt nur eine Möglichkeit, Volk unter Völkern zu sein; glückliches Volk: sich restlos in die andern zu verlieben« – finden kaum Gehör. Deutschland geht einen anderen Weg – in den Zweiten Weltkrieg.


»Vergesst nicht!
Zerreißt eure Herzen – nicht eure Kleider«
(Prophet Joel)
Graphisches Kabinett von Hermann Keil.
Wie der Aufruf des Propheten Joel zur Buße und Umkehr, so auch das Bestreben Hans Paasches nach 1918 

Literatur über Hans Paasche

Hans Paasche – Ein Leben für die Zukunft, Hrsg. von Helmut Donat, Bremen 2023

Hans Paasche – Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland. Mit Beiträgen von I. Fetscher, H. Donat u.a.,  Bremen 2021

Hans Paasche – „Ändert Euren Sinn!“, Schriften eines Revolutionärs. Hrsg. von H. Donat und Helga Paasche, Bremen 1992

Werner Lange: Hans Paasches Forschungsreise ins innerste Deutschland – Eine Biographie, Bremen 1995    
  

 (Alle Donat Verlag )