»Ist heute schon morgen?«, fragt der bekannte bulgarische Politologe Ivan Krastev in seinem jüngsten Buch und stellt darin die These auf, dass die Corona-Pandemie – ob ihrer Ereignislosigkeit – kaum eine Erinnerung im kollektiven Gedächtnis hinterlassen werde.
Sein Beleg für diese steile These ist die Spanische Grippe, die bis zu fünfmal mehr Menschen das Leben gekostet hat als der Erste Weltkrieg und die dennoch bis heute verhältnismäßig wenig bekannt ist.
Dabei verkennt Krastev allerdings den fundamentalen Unterschied zur heutigen Lage: Während die Spanische Grippe direkt auf den Weltkrieg als den Inbegriff des Ausnahmezustandes und eines millionenfachen Mordens folgte und deshalb als fast »normales« Sterben wirken musste, erleben wir – zumindest im reichen Westeuropa – Corona nach der Erfahrung von 75 Jahren Frieden als den ersten radikalen Einschnitt in die westliche Konsum- und Wachstumsgeschichte.
Ja, mehr als das: Heute, gut ein Jahr nach Ausbruch der Corona-Pandemie, ist bereits klar, dass wir es mit der wohl härtesten globalen Zäsur seit der friedlichen Revolution von 1989/90 zu tun haben.
Allerdings könnte der Gegensatz zu 1989 kaum größer sein. Damals bescherte der Fall der Mauer das Ende des Warschauer Pakts und den Sturz der kommunistischen Diktaturen. Diesmal ist es der »Führer der freien Welt«, Donald Trump, den das historische Ereignis aus dem Amt katapultiert hat. Die Geschichte wiederholt sich also, allerdings nicht als Farce, aber doch unter fast umgekehrten Vorzeichen. Was 1989/90 der Niedergang des Sowjetimperiums war, war 2020 das Ende der US-Regierung – und das just in dem Moment, als Trump die Macht mit autokratischen Mitteln zu verteidigen suchte.
Damit wurde Corona zum Game-Changer. Doch während damals der Osten fundamental betroffen war und sich im Westen wenig bis nichts ändern musste, stehen heute die westlichen Demokratien im Feuer. Zugleich sitzt das autoritäre Regime in China – als der Ausgangspunkt der Pandemie – fester im Sattel als zuvor.
So erweist sich die Coronakrise als jene fundamentale »demokratische Zumutung«, von der die Kanzlerin gesprochen hat. Oder genauer gesagt: als die wohl größte Herausforderung für die Demokratie seit dem Untergang ihres totalitären Kontrahenten 1990 – und zugleich des global-kapitalistischen Lebens- und Konsummodells.
»Ich konsumiere, also bin ich«
In einer ersten Zwischenbilanz kann man eines immerhin feststellen: Ohne den Virus wäre eine der größten Schweinereien der industriellen Moderne immer noch ungestört im Gange, nämlich die Ausbeutung von Mensch und Tier in den gigantischen Fleischfabriken. Was »normale Zeiten« nicht geschafft haben, erledigte das Virus in wenigen Wochen: Erst als die Fleischindustrie zum Superspreader wurde, richtete sich der Fokus endlich auf die unhaltbaren Zustände bei Tönnies und Co. 12-Stundenschichten zu Dumpinglöhnen, dazu horrende Wuchermieten von Subunternehmen: Faktisch herrschen in den Fabriken leibeigenenschaftsähnliche Verhältnisse. Jahrelang hatte Deutschlands größter Fleischproduzent Besserung versprochen und sich doch nie daran gehalten; erst Corona brachte – notgedrungen – die Wende.
Wie sehr sich der Wind durch Corona gedreht hat, zeigte sich nicht nur am Ausmaß der Empörung, sondern auch daran, dass noch zu Beginn des Jahres 2020 die mediale Lage eine völlig andere war. Damals wurde eine erhitzte Debatte über die Unabdingbarkeit täglichen Fleischkonsums geführt. Gegen die von Grünen und Umweltverbänden angestoßene Debatte machte die »Bild«-Zeitung gewohnt populistisch mobil: »Lasst die Nackensteak-Esser in Ruhe!«(Ralf Schuler, in: »Bild«, 26.1.2020.), so die Anklage gegen die angeblich ökodiktatorischen Grünen. (»Bild am Sonntag«, 25.1.2020.)
Dabei hatte es sich der noch immer mit dem Veggie-Day-Trauma geschlagene Grünen-Chef Robert Habeck nur erlaubt, einen »Tierschutzcent« auf tierische Produkte zu fordern. Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus erklärte daraufhin »Nackensteak-Esser« zum »Rückgrat unserer Gesellschaft«. »Unser täglich Schnitzel gib‘ uns heute«, lautete das christdemokratische Leitmotiv.
Doch im Zeichen von Corona forderte selbst die keineswegs agrarindustriekritische Julia Klöckner harte Einschnitte. Fleisch dürfe keine Ramschware sein, so die Bundeslandwirtschaftsministerin, deshalb wolle sie gegen Dumpingpreise vorgehen – mit einer Tierwohlabgabe von immerhin 40 Cent pro Kilo Fleisch. Hätten die Grünen vor Corona derartiges zu fordern gewagt, ein Sturm der Entrüstung wäre über sie hereingebrochen.
Ob sich eine bloße Tierwohlabgabe dazu eignet, den erforderlichen Systemwechsel in der Fleischindustrie zu bewirken, ist allerdings höchst zweifelhaft. Die eigentliche Chance durch Corona ist dagegen weit grundsätzlicherer Natur.
Im Kern stellt die Seuche unser gesamtes Konsum- und Lebensmodell in Frage. Oder genauer gesagt: unser Leben als Konsummodell. Ich konsumiere – und zwar möglichst viel und billig –, also bin ich, lautet das Leitmotiv des modernen homo consumens.
Doch Corona hat das Primat des Konsums faktisch ausgehebelt – mit erheblichen Folgen: Zum ersten Mal sind die deutschen Emissionen nicht mehr doppelt so hoch wie nach dem Pariser Klimaabkommen zulässig. Unser ökologischer Fußabdruck entspricht derzeit den im Jahr 2015 festgelegten Anforderungen. Auf diese Weise könnte die globale Erwärmung doch noch auf unter zwei Grad stabilisiert werden. Insoweit bedeuten die zurückliegenden Monate – bei aller Tragik angesichts der vielen Toten – tatsächlich eine Chance, nämlich den Ausbruch aus der fatalen alten »Normalität«.
Aber eine neue Normalität wurde durch diesen globalen Ausnahmezustand noch lange nicht geschaffen. Die Grundfrage lautet daher: Kann ein derart kurzfristig durch Corona geändertes Konsumverhalten auf Dauer gestellt werden – und wenn ja, wie?
Die Dilemmata des Konsumkapitalismus
Spätestens an diesem Punkt werden die Dilemmata des global integrierten Weltmarkts deutlich. Denn zugleich erleben wir dank Corona in aller Dramatik, in welch fatalen Pfadabhängigkeiten sich die gesamte Weltwirtschaft bewegt. Wenn der reiche Norden nicht billige Kleidung im Überfluss konsumiert, leiden als erstes die (zumeist weiblichen) Produzenten in den südlichen Billiglohnländern, denen ihre gesamte Existenzgrundlage abhandenkommt. Und wenn die deutschen Reiseweltmeister nicht die schönsten Strände der Welt heimsuchen, erhalten die in der Tourismusindustrie beschäftigten Einheimischen nicht die erforderlichen Löhne, um anschließend auch deutsche Industrieprodukte erwerben zu können.
Auch deshalb dürften uns im neuen Jahr die gewaltigen ökonomischen Folgeschäden von Corona einholen, wenn nämlich zahlreiche deutsche Betriebe Konkurs anmelden werden. Zugleich müssen wir jedoch zur Kenntnis nehmen, dass die globale Umwelt schon lange »Konkurs« zu machen droht. Der große Unterschied:
Wenn die klimatischen Kipppunkte erreicht sind, sind die Folgen – anders als in der Ökonomie – irreversibel; dann wird die drohende Heißzeit nicht mehr erfolgreich zu bekämpfen sein. Daran kann auch ein reichlich durchwachsener Sommer bei uns nichts ändern, wenn zugleich in Sibirien der Permafrostboden immer schneller auftaut.
Hier zeigt sich, dass die über Jahrhunderte praktizierte Logik der Externalisierung der industriellen Folgeschäden endgültig an ihre ökologischen Grenzen gekommen ist. Corona verdeutlicht damit die doppelte Krise des globalkapitalistischen Produktions- und Konsummodells.
Das gilt erstens für dessen Funktionskrise, dass nämlich alle Beteiligten als Konsumenten und Produzenten aufs Engste voneinander abhängen und der Ausfall eines jeden das gesamte System in Frage stellt. Heute, so die perverse Logik, arbeiten wir nicht primär, um zu konsumieren, sondern wir konsumieren, um weiter arbeiten zu dürfen – um nämlich durch unseren Konsum den globalisierten Kapitalismus am Laufen zu halten und damit auch unseren eigenen Arbeitsplatz zu garantieren.
Daran hängt zweitens die Krise unseres eigenen Selbstverständnisses. Wer sind wir und wer wollen wir sein, jenseits der bloßen Konsumentenexistenz? Und was wäre vor diesem Hintergrund die richtige, nachhaltige Antwort auf die Krise?
Einkaufen als »patriotischer Akt«
Die Antwort der Bundesregierung ist jedenfalls klar: Sie erklärt das Shoppen faktisch zur ersten Bürgerpflicht. »Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt«, zitierte Bundesfinanzminister Olaf Scholz den bald vierzig Jahre alten Hit der Neue-Deutsche-Welle-Band »Geier Sturzflug«. Und Wirtschaftsminister Peter Altmaier erklärte »Einkaufen« prompt zum »patriotischen Akt«, woraufhin der »Bild«-Chefredakteur brav sekundierte: »Deutschland ging es immer am besten, wenn wir unseren Glauben an eine bessere Zukunft durch Konsum ausgedrückt haben.«
Konsum wird hier – in bestechender Ehrlichkeit – zur eigentlichen und letzten nationalen Leitkultur. In diesem Denken firmiert die bevorstehende Impfung gegen Covid-19 als probates Allheilmittel,
um dann unvermindert konsum-expansionistisch weiterzumachen. Das allerdings wäre nur die Rückkehr zum fatalen Status quo ante. Es ist eine verführerische, aber höchst gefährliche Illusion, anzunehmen, mit einem Impfstoff werde plötzlich alles wieder gut. Denn gegen die Klimakrise gibt es keine Impfung.
Die eigentliche Frage lautet daher: Wie immunisiert sich eine Gesellschaft wirklich gegen das nächste Virus – und auch gegen das Virus der Klimakrise? Wie kommen wir heraus aus der systemischen Krise eines wachstumsgetriebenen Kapitalismus, ohne immer wieder nur den Konsum anzukurbeln und damit die Krise immer weiter zu vertiefen? Das ist die zentrale Herausforderung dieses Jahrhunderts.
Die Botschaft der Bundesregierung ist eindeutig: Wir müssen die Wirtschaft aus der Krise herauskonsumieren. Indem wir mit Hilfe milliardenschwerer Investitionen den nationalen und europäischen Konsummotor anwerfen, soll auch die deutsche Wirtschaft wieder in Schwung kommen. Mit dem Konsumargument wurde zeitweilig sogar die Maskenpflicht in Frage gestellt – weil nämlich die Maske die Kauflaune der Menschen dämpfe und als »Gierbremse« wirke, so der Marktforscher Stephan Grünewald. (Johannes Pennekamp und Julia Löhr, Darf es ein bisschen weniger Konsum sein?, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 8.7.2020.)
Die Rückkehr zu einer Normalität, die faktisch keine ist
Auf diese Weise betreiben wir die Rückkehr zu einer Normalität, die faktisch keine ist. Stattdessen gehört das Konsumieren als Lebensform auf den Prüfstand. Durch Corona wird der homo consumens und damit unser aller Selbstverständnis radikal in Frage gestellt: Auf was mussten wir in den vergangenen Monaten wirklich verzichten, indem wir weniger konsumiert haben? Was hat uns tatsächlich gefehlt?
Damit ist die alte, schon von Erich Fromm (»Haben oder Sein«) in den 1970er Jahren aufgeworfene Frage zurück auf der Agenda: Was sind wahre menschliche Bedürfnisse – und was bloß warenförmige, künstlich erzeugte?
Hinter diese, durch Corona aufgeworfenen Fragen dürfen wir auf keinen Fall zurückfallen, wenn wir die Krise als Chance begreifen wollen. Der »Konsumbürger« – eigentlich ein Widerspruch in sich – ist der Inbegriff einer egoistischen Individualisierung. Dagegen gilt es unsere Sozialpflichtigkeit neu zu entdecken. Und zwar nicht, wie derzeit massiv forciert, als Konsumpatriotismus gegenüber dem eigenen Land (»Reisen Sie in Deutschland!«, »Kaufen Sie deutsch!«), sondern in erster Linie gegenüber einer globalen Umwelt, die durch das westliche Konsummodell radikal gefährdet wird.
Hier aber zeigt sich das sozial-psychologische Dilemma der Krise des real-existierenden Kapitalismus: In Umfragen erklären die Menschen regelmäßig ihre Bereitschaft, ökologisch zu handeln. Zugleich sind noch immer die wenigsten bereit, ihr eigenes Konsumverhalten tatsächlich nachhaltig zu ändern. Vor allem deshalb liegt der Anteil an ökologisch erzeugtem Schweinefleisch nach wie vor bei bloß einem Prozent (Silvia Liebrich, Jan Schmidbauer und Josef Wirnshofer, Guten Appetit, in: »Süddeutsche Zeitung«, 11./12.7.2020.). Doch ohne eine geringeren Konsum von in der Produktion hoch energieaufwendigem Fleisch werden wir die CO2-Emissionen der Landwirtschaft nicht senken.
In der Coronakrise wurde Prävention zur ersten Bürgerpflicht erklärt – in der Klimakrise muss das gleiche gelten. Im Grundgesetz heißt es bekanntlich, Eigentum verpflichtet. Das betrifft aber nicht nur unser privates, sondern auch unser kollektives »Eigentum«, die globale Umwelt. Ihr gegenüber sind wir primär verpflichtet, da wir alle auf ihren Erhalt angewiesen sind. Dafür müssen wir raus aus den alten Pfadabhängigkeiten und völlig neue Wege beschreiten. In der Aufwertung der Fürsorge und des Care-Gedankens, in stärkerer Regionalisierung und der Entdeckung des Nahbereichs liegen die Chancen der Coronakrise.
Die Wende zum Weniger ist möglich
Was aber folgt langfristig daraus, wenn wir angesichts der enormen Zunahme von Home Office nicht mehr alle gleichzeitig ins Büro müssen? Erkennen wir den Gewinn an Zeit und Raum in den von Autos befreiten Innenstädten, die damit wieder zu Orten des sozialen Lebens statt des reinen Arbeitens werden könnten? Für viele ist jedenfalls das Zweitauto, mit dem der eine Teil der Familie zur Arbeit fuhr, derzeit überflüssig geworden. Stellt sich gar am Ende die Frage, ob wir den Individualverkehr überhaupt noch brauchen? Oder erleben wir den gegenteiligen Effekt: Werden die Straßen noch voller werden, weil der Individualverkehr einen neuen Boom erfährt – aus Angst vor Corona in den öffentlichen Verkehrsmitteln?
Corona könnte also in der Tat eine Zeitenwende bedeuten. Diese Krise hat gezeigt: Die Wende zum Weniger ist möglich. Der praktizierte Konsumverzicht bleibt die bisher wichtigste Erfahrung. Und eine weitere Entmaterialisierung ist denkbar: Denn dass zugleich die Erwerbsarbeit ihre Rolle als Lebensmittelpunkt eingebüßt hat und die Trennung von Familie und Beruf aufgehoben wurde, war für viele ein enormer Gewinn an Lebensqualität, trotz aller Komplikationen und Anstrengungen (insbesondere für Eltern durch die Schließung der Schulen).
Dieser experimentell erprobte neue Lebensstil gibt jedoch allein noch keine hinreichende Antwort auf die Systemfrage: Wie kann eine Wirtschaft ohne permanentes Wachstum funktionieren?
Hier muss die Antwort auf Corona wie auf die Klimakrise darin bestehen, endlich zu gerechteren Handelsbeziehungen zu kommen und für die Waren des Südens faire Preise zu zahlen, die zugleich die ökologische Wahrheit sagen. Auch dafür müssen wir von unserem alten Konsummodell Abstand nehmen. Übrigens auch im ureigenen Interesse: Solange unser Konsumverhalten das globale Maß aller Dinge bleibt, werden wir die Klimakrise nie in den Griff bekommen.
Seit der Kolonialzeit profitiert der globale Norden von den ungleichen internationalen Handelsbeziehungen, den terms of trade: Der Süden liefert billige Rohstoffe und kauft teure Industrieprodukte aus dem Norden. Neuerdings hinzugekommen – so die besonders bittere Ironie der Geschichte – ist der Export von Billigfleisch aus dem Norden in den Süden, wodurch ganze lokale Handelsmärkte zerstört werden. Dem globalen Süden durch faire Preise und Handelsbeziehungen endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist daher das eigentliche Gebot einer überzeugenden Dekolonialisierung.
Mehr Entschleunigung und Begrenzung wagen
Corona hat – wenn auch ungewollt – zu einem Innehalten des rasenden Konsummotors geführt. Die entscheidende Frage lautet daher, inwieweit eine derartige Zäsur als eine Zeit des Stillstands Mentalitäten nachhaltig prägen kann.
Die einschneidenden Ereignisse des 20. Jahrhunderts waren solche der radikalen Beschleunigung – von den großen Kriegen bis zu den ideologischen Kulturkämpfen, von den 1930er Jahren über 1968 bis zu 1989/90 als dem letzten Durchbruch eines hoch-individualistischen wachstumsgetriebenen Finanz- und Konsumkapitalismus. Im 21. Jahrhundert müsste dagegen die mentale und die ökonomische Entschleunigung das Ziel sein, d.h. eine neue Form des Wirtschaftens als nachhaltige Steady-State Economy.
Heute erweist sich Sozialpflichtigkeit im Zuhausebleiben und nicht in der Welteroberung, ob militärisch oder massentouristisch. Anders ausgedrückt: Was wir heute brauchen, sind eher Boring Twenties statt Roaring Twenties.
Daher wäre es ein großer Schritt in die richtige Richtung, wenn das, was in 2020 an Mobilitäts- und auch an Konsumverzicht geleistet wurde, im neuen Jahr darauf überprüft würde, was davon existenziell für den Menschen ist und worauf getrost verzichtet werden kann. Denn zweifellos gehören extrem klimaschädliche Inlandsflüge nicht zur erforderlichen menschlichen Grundversorgung – zumal die Coronakrise auch gezeigt hat, was alles spielend mittels digitaler Konferenzen zu bewältigen ist.
Auch was die Handlungsnotwendigkeiten anbelangt, ist daher der Vergleich mit der letzten historischen Zäsur vor 30 Jahren erhellend. 1989/90 war ein Jahr der globalen Öffnung, der grenzenlosen sozialen Kontakte. So wurde die seit 1989/90 globalisierte westlich-konsumistische Lebensweise mit ihren CO2-Emissionen zum Superspreader der Klimakrise.
Zugleich fungierte der Mauerfall als Auslöser eines rasenden Individualismus: Die 90er Jahre wurden zur Dekade eines rauschhaften Lebens im Hier und Jetzt, aber damit zugleich zum Jahrzehnt der Zukunftsvergessenheit. Was zählte, waren Lustmaximierung, Spaß und Hedonismus, mit der Love Parade (»Friede, Freude, Eierkuchen«) als dem Signum der Zeit. »Unterm Strich zähl ich«, war das Leitmotiv der 90er. Wo zuvor noch wir gewesen war, sollte nur noch ich sein. »There is no society, there are only individuals and families«, lautete der Schlachtruf der Neoliberalen.
Die 90er Jahre schienen eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten zu sein. Parallel dazu wurde mit dem Erdgipfel von Rio im Jahr 1992 die schöne Utopie der »Einen Welt« erzeugt, die sich jedoch immer mehr als Farce entpuppt. Heute sehen wir eine zutiefst gespaltene Welt, gekennzeichnet vom millionenfachen Elend von Flüchtlingen in desaströsen Lagern, ob in Libyen oder Syrien, der Türkei, in Griechenland oder auf dem Balkan. Und denkt man an die Maßnahmen gegen die Umweltkrise, waren es dreißig verlorene Jahre, Jahre der Verantwortungslosigkeit – ohne jede Vorsorge. Allen internationalen Kodifikationen zum Trotz obsiegte am Ende allein das nationalistische oder individualistische Nutzenkalkül. Donald Trump, der Narziss im Oval Office, war insofern nur folgerichtig, als Krönung dieser enthemmten Epoche.
Mit dem Ausbruch der Coronakrise und Trumps Abwahl ist diese 30jährige Ära der Entgrenzung an ihrem Ende angelangt. 2020 wurde zum Jahr des social distancing, der Begrenzung jeglicher Kontakte. Der Staat kehrte zurück und regierte in zuvor schier ungeahnter Weise in den privaten Bereich hinein. Und zwar – und darin liegt der große Unterschied zur Lage im Ostblock vor 1989/90 – zum Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger und zudem mit deren ganz überwältigender Zustimmung, aus Einsicht in die Notwendigkeit.
Die Lehren aus der Coronakrise
Gerade vor dem Hintergrund der drei vergangenen, radikal beschleunigenden Jahrzehnte stellt sich somit die Frage, was aus der Erfahrung mit der Coronakrise gelernt und bewahrt werden sollte.
Was heute not tut, ist ein radikaler Bruch mit dem Prinzip der rein ökonomistischen Expansion. Aus einer Epoche der maximalen Entgrenzung seit 1989 muss eine Epoche der Begrenzung werden. Die Verzichtsfrage, die wir in diesem Jahr mit Kontakt- und auch gewisser Konsumzurückhaltung beantwortet haben, stellt sich hinsichtlich der Klimakrise noch weit grundsätzlicher. Denn die gesamte westliche Konsumgesellschaft ist gelebter Trumpismus im Kleinformat.
Die Frage ist, ob das Kollektive, das Gemeinsame, das Denken an die globalen Commons in Zukunft wieder eine Chance hat gegen den Hyperindividualismus. Was hat Vorrang, die Maximierung der Individualinteressen oder das Überlebensinteresse der Gattung – und die Gewährleistung eines guten Lebens für alle? Das ist die entscheidende Frage dieses in der Klimafrage so entscheidenden Jahrzehnts.
Der demokratische Westen verfügt derzeit offensichtlich über keine Alternative zum konsumistischen Lebensmodell, das er nach 1989/90 zum global hegemonialen gemacht hat. Notwendig wäre dafür eine völlig andere Prioritätensetzung – mit Solidarität als dem zentralen nationalen wie globalen Leitbegriff.
Solidarität ist zudem – heute mehr noch als früher – auch eine Generationenfrage. Gerade in diesem Jahr wurde sie von der jungen Generation in ganz überwiegender Weise erbracht, zugunsten der Älteren, der Vulnerableren. Was die Klimakrise anbelangt, stellt sich die Lage dagegen genau umgekehrt dar. Hier sind die Jüngeren allein ihrer längeren Lebenserwartung wegen die Verletzlicheren – und zutiefst abhängig von der konsumistischen Selbstbegrenzung gerade der oft gut situierten Älteren.
Fest steht: Angesichts der Klimakrise wird persönliche Selbstbegrenzung zum Schutz der Freiheitsrechte anderer zu einer Grundvoraussetzung der liberalen, freiheitlichen Gesellschaft. Das gilt für Individuen, aber auch für Staaten. In der Coronakrise waren die Nationalstaaten fatalerweise primär mit sich selbst beschäftigt. Aus einem banalen Grund:
Gegen die Ausbreitung eines Virus kann man nationale und sonstige räumliche Grenzen ziehen, indem man die Mobilität radikal einschränkt. Im Falle der Klimakrise ist das keine Option. CO2 kennt keine Grenzen. Nationale Solidarität wird daher im Kampf gegen die Klimakrise nicht reichen. Und auch im Fall der Coronakrise ist der derzeit aufbrechende Impfnationalismus, passenderweise mit Großbritannien an der Spitze, natürlich fatal.
Internationale Solidarität muss daher die eigentliche neue globale Leitkultur werden. Auch weil ein bloß nationaler Kampf gegen die Erderwärmung immer wieder Trittbrettfahrer produzieren wird, die von den Maßnahmen anderer profitieren, ohne sich selbst anstrengen zu müssen – und damit das Argument der Klimawandelleugner evozieren, dass nationale Maßnahmen ohnehin nichts taugen.
Erforderlich ist daher jetzt eine große internationale Offensive zur Klimaprävention. Die ersten dreißig Jahre seit der Zäsur von 1989/90 wurden verspielt; die nächsten dreißig Jahre darf sich dies auf keinen Fall wiederholen, bei Strafe einer irreversiblen Zerstörung der Atmosphäre. Damit bietet Corona allen Kontaktverboten zum Trotz die Chance, die Welt im Jahr 2021 politisch wieder näher zusammenrücken zu lassen. Entscheidend wird sein, welche Konsequenzen aus dem Ausnahmejahr 2020 gezogen werden.
Entweder wir betreiben eine Politik der Resilienz und ergreifen Maßnahmen der Vorbeugung – oder die Gesellschaft setzt ihren verhängnisvollen Konsumpfad unbeirrbar fort.
»Lost«, verloren, heißt das Jugendwort des Jahres 2020. 2021, in den Debatten dieses Superwahljahres, wird sich erweisen müssen, ob 2020 tatsächlich ein verlorenes Jahr gewesen ist – oder aber der Beginn eines anderen Entwicklungspfades, in dem die entscheidenden ökologischen Konsequenzen aus der Coronakrise gezogen werden.
Noch ist nicht ausgemacht, ob 2020 nur das annus horribilis mit Hunderttausenden von Corona-Toten sein wird, oder vielleicht doch – die Hoffnung stirbt zuletzt – der Anbruch einer globalen Wende zum Besseren.
Die Coronakrise könnte der Anfang einer besseren Normalität werden. Doch dafür darf die geschenkte Zeit nicht zur verschenkten Zeit werden. Dafür müssen wir den Mechanismen der Verdrängung und dem starken Sog zurück in die alte »Normalität« eine andere, neue Leitidee von Leben und Konsumieren entgegensetzen. Doch welche Antwort wir darauf geben, ist derzeit noch offen. Fest steht nur eins: Eine solche Gelegenheit werden wir so bald nicht wieder erhalten.
Im Auftrag des Evangelischen Landeskirchenamtes Bayern und des Katholischen Schulkommissariates Bayern