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Als ich mit dem Papst U-Bahn fuhr  
Ausgabe: 174/2015

Papst Franziskus hat eingeschlagen.
Ein Papst, der die Entmythifizierung des Papstamtes vorantreibt, indem er einfach er selbst ist. Er mischt sich ein, er setzt Zeichen. Nah bei den Menschen. Nah bei den großen Themen unserer Zeit, wie Gerechtigkeit, Marginalisierung, Ökologie, Migration, Frieden.
Zuletzt hat er mit der Enzyklika »Laudato si‘« einen Pflock eingeschlagen, der nicht nur die christliche Welt zum Nachdenken zwingt.
Franziskus bekommt Zustimmung und Beifall. In vielen katholischen Kirchengemeinden spürt man Aufatmen und Hoffen. Angehörige verschiedener Kulturen, Religionen, Konfessionen und Ausrichtungen warten auf weitere positive Signale. Sie sehnen sich nach Versöhnung und dem gemeinsamen Angehen großer Aufgaben.
Jedoch ist nicht zu übersehen, dass sich auch eine Front kirchlicher Schriftgelehrter und verängstigter Traditionsbewahrer zum Widerstand rüstet. Ihnen ist dieser reformierende Papst mit seinem undogmatisch-pragmatischen Stil - ohne Totalanspruch - unheimlich geworden. Es bleibt nur zu hoffen, dass Franziskus sich weiterhin treu bleibt und dass die begonnene Öffnung der Kirche auch theologisch gelingt.
Die vorliegende Nummer von »Begegnung und Gespräch« wirft einen ganz persönlichen Blick auf diesen Papst aus der Außensicht einer Jüdin und gleichzeitig aus der Innensicht einer Argentinierin. Erika Rosenberg hat Jorge Mario Bergoglio SJ als Bischof erlebt und sie hat mit vielen Menschen seines Umfeldes über ihn gesprochen.

Viel Freude beim Lesen!

Ihre BuG-Redaktion

 

Als ich mit dem Papst U-Bahn fuhr

Gedanken und Erfahrungen zum christlichen Papst Franziskus aus der Sicht einer jüdischen Argentinierin

                                                     Erika Rosenberg

Jorge Mario Bergoglio, der Mann vom anderen Ende der Welt, wurde im März 2013 wider Erwarten vieler zum Papst gewählt. Nicht allein sein fortgeschrittenes Alter schien ihn aus dem Kreis der Favoriten ausscheiden zu lassen. Es wurde auch gemunkelt, dass die Kurienkardinäle ihn nicht schätzten. Wer wie er Pomp und Prunk ablehnte, daraus keinen Hehl machte und die Kirche zu mehr Bescheidenheit und Demut ermahnte und dabei sogar von »sozialer Sünde« sprach, der machte sich nicht gerade Freunde unter jenen europäischen Eminenzen, deren Hofhaltung teilweise an die feudaler Fürsten erinnerte.

Tatsache ist: Franziskus mag keinen Prunk, keine roten Schuhe, kein goldenes Kreuz. Er ist demütig, bescheiden und er plädiert für Gerechtigkeit in der Welt. Er kämpft gegen Korruption, gegen Ausbeutung und Diskriminierung. Sein Kampf für die Umwelt, hier v.a. die jüngste Enzyklika, seine aufrichtige Bitte um Vergebung bei den Waldensern, sein Einsatz für den interreligiösen Dialog – mutig packt er unbequeme Themen an und seit seiner Wahl macht er Schlagzeilen – nahezu jede Woche neu.
Schlagzeilen allerdings gab es auch schon vor ihm in Rom. Die dubiosen Geschäfte der Vatikanbank waren es vor allem, die innerhalb und außerhalb der Kirche für Entsetzen sorgten. Interne Dokumente aus dem Vatikan, die ab 2011 immer wieder in der Öffentlichkeit auftauchten, erhärteten die Vorwürfe. Von Korruption und Günstlingswirtschaft war die Rede, gar von Geldwäsche für die Mafia, aber auch von Pädophilie und Homosexualität. Es war ein schweres Erbe, das der Mann aus Buenos Aires antrat – in jeder Hinsicht, denn nicht nur der Skandale muss er sich annehmen, sondern gleichzeitig sieht er sich mit sehr unterschiedlichen Erwartungshaltungen konfrontiert; in geistlichen Kreisen ebenso wie unter den Laien. Die einen erhoffen sich umstürzlerische Reformen, die anderen fürchten ebendiese.

Reif war die Zeit, den Eurozentrismus der Kirche zu beenden mit einem Oberhirten aus einem anderen Kontinent. Zum anderen musste es jemand sein, der sich traute, die von Skandalen erschütterte Reputation und Glaubwürdigkeit des Vatikan energisch wiederherzustellen.
Bergoglio empfahl sich durch seine Rede beim Vor-Konklave. »Mach damit, was du willst« hat er zu seinem kubanischen Kollegen Jaime Ortega, dem Kardinal von Havanna, gesagt, und dann gab er ihm auf dessen Bitte hin die drei handgeschriebenen Blätter seines Redemanuskripts.

 

 

Als zentrales Anliegen nannte er hier die »Evangelisierung«. Sie allein sei der »Daseinsgrund der Kirche«. Diese Forderung nach einem ‚Aus-sich-herausgehen‘ der Kirche kehrt bei Bergoglio in allen möglichen Varianten immer wieder – bis hin zu der Forderung, dass sich Kirche an die »geografischen Ränder« sowie »an die Grenzen der menschlichen Existenz« begeben müsse. Falls Kirche das versäume, kreise sie um sich selbst, werde krank und verharre im »theologischen Narzissmus«. Man habe die Wahl zwischen einer »verkündenden Kirche, die aus sich herausgeht« und einer »mondänen Kirche, die in sich, von sich und für sich lebt.« Um zu veranschaulichen, was er damit meinte, drehte er das Gleichnis von Jesus, der an die Tür klopft, um hereingelassen zu werden, einfach um. Er denke an die vielen Male, »wenn Jesus von innen klopft, damit wir ihn herauskommen lassen. Die egozentrische Kirche beansprucht Jesus für sich im Innern und lässt ihn nicht nach außen treten.«

Rückblickend gesehen war diese Rede ein programmatisches Statement für sein eigenes Pontifikat. In seinem ersten Apostolischen Schreiben »Evangelii gaudium – Über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute« griff er das Thema erneut und umfassend auf.
Eine Fülle von Themen steht zur Diskussion und zur Lösung an: Zölibat, die Haltung der Kirche zur Homosexualität und zu wiederverheirateten Geschiedenen, … Nicht umsonst liest man von »Baustellen«, die Franziskus in Angriff nehmen muss. Bergoglio kann sich nicht nur durchsetzen, sondern verfügt auch über die Fähigkeit, auseinanderdriftende Gruppierungen zu versöhnen. Beides hat er in Argentinien oft genug unter Beweis gestellt. Man kann diesen ersten Papst aus Lateinamerika nur verstehen, wenn man auf seine Herkunft und seine Biografie schaut. Darum habe ich auch Recherchen aufgenommen, um über ihn ein Buch zu schreiben.
Nach seiner Wahl, die er mit den Worten annahm: »Ich bin ein großer Sünder und vertraue auf die Barmherzigkeit und Geduld Gottes«, setzte er die Welt mit immer neuen Überraschungen in Erstaunen. Schon der unprätentiöse Auftritt auf dem Balkon und das familiäre »Buona sera« kündigten einen Paradigmenwechsel an. Ebenso die Tatsache, dass sich der frisch gekürte Papst bescheiden als »Bischof von Rom« vorstellte und nicht als neuer Oberhirte der katholischen Christenheit.
Später, am Ostersonntag, übte er für sich in seinem Wohnsitz im Gästehaus den Ostergruß in verschiedenen Sprachen. Aber dann drehte er sich zu Monsignore Guillermo Karcher um und sagte: »Warum muss ich überhaupt den Segen in Sprachen erteilen, die ich nicht verstehe und die ich schlecht ausspreche? So sollte man eigentlich keine Osterwünsche übermitteln. Ich werde nur italienisch sprechen, schließlich bin ich der Bischof von Rom, und hier spricht man nun mal italienisch. Jemand anders soll übersetzen, da gibt es genug Ansager und Fernsehkommentatoren…«
Zermonienmeister Guido Marini hat offenbar nichts unversucht gelassen, um ihn für seine erste Rede auf dem Balkon zum Anlegen der traditionellen Kleidungsstücke und sonstigen Insignien päpstlicher Macht zu bewegen. Vergeblich. Der ebenso bescheidene wie hartnäckige Mann aus Buenos Aires setzte sich durch. Dass er allerdings den irritierten Marini mit Sprüchen wie »Das können Sie sich selbst umhängen« oder »Der Karneval ist zu Ende« brüskiert haben soll, dürfte ins Reich der Legende gehören. Das passt nicht zu Bergoglio. Zwar hat er in unserer gemeinsamen Heimat immer Klartext geredet und aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht – doch dass er jemanden, der nur seine Pflicht tut, absichtsvoll kränkt, nein, das glaube ich nicht.

Klartext hat er allerdings auch am 22. Dezember 2014 vor den versammelten Kardinälen geredet. Er sprach von Kurienkrankheiten wie »mangelnder Selbstkritik, kaltem Bürokratismus, von Scheinheiligkeit, fehlendem Humor bis hin zu Gier nach Macht und weltlichem Besitz«.

 

Den ehemaligen Erzbischof von Buenos Aires sah ich zum ersten Mal bei einem Tedeum in der Kathedrale in Buenos Aires im Jahr 1998, nachdem ich in Erfahrung gebracht hatte, dass Pater Jorge Mario Bergoglio eine Gedenktafel für die Opfer des Holocaust in der Kathedrale enthüllen lassen wollte. Als jüdische Journalistin interessierte ich mich sehr für den interreligiösen Dialog und für diese wohl weltweit einzigartige Idee.
Ich saß in der ersten Reihe, um mir Notizen zu machen über für mich unverständliche oder unbekannte Ausführungen. Im Übrigen erwartete ich eine Homilie oder Messe mit theologischer Orientierung. Zu meiner Überraschung war die Botschaft des Erzbischofs so klar und deutlich, dass sie sogar ein kleines Kind auf Anhieb hätte verstehen können. Ich war angetan und fasziniert von der Art und Weise, wie er mit leiser, aber sicherer Stimme Sätze formulierte – ohne Schnörkel und hochgeistige Abschweifungen, und natürlich ahnte ich nicht, dass dieser Erzbischof fünfzehn Jahre später zum Papst gewählt werden würde.
Wochen danach sah ich Bergoglio in der U-Bahn. Wie es dort oft geschieht, legte ein kleiner Junge den Fahrgästen Heiligenbilder auf den Schoß, um sich Geld zu erbetteln. Als er an Bergoglio vorbeiging, der schon an der Türe stand, streichelte dieser ihm liebevoll über den Kopf und zog etwas aus der Tasche und reichte es dem Kind. Obwohl es sichtlich kein Geld war, funkelten die Augen des kleinen Bettlers vor Freude. Leider konnte ich nicht in Erfahrung bringen, was das kleine Geschenk war – für mich ein Symbol: Geld und Reichtum rühren nicht das Herz an, sondern die menschliche Zuwendung ist es und ein Geschenk, das von Herzen kommt und sei es nur das kleinste.

Das nächste Mal in der U-Bahn fasste ich mir ein Herz, und ich sprach Bergoglio an. Auf meine Frage, wie die katholische Kirche zu ihren älteren Brüdern, den Juden, stehe, antwortete er mit leiser Stimme und einem gewinnenden Lächeln, das sogar aus seinen Augen leuchtete: »Ein Christ kann kein Antisemit sein.« Nachdem er ausgestiegen war, winkte er mir vom Bahnsteig aus noch einmal lächelnd zu.
Schon seit Jahren bemühte er sich um eine Annäherung der Religionen. Die Aussöhnung mit den Juden liegt ihm besonders am Herzen. Sicher hängt es damit zusammen, dass der argentinische Staat nach dem Zweiten Weltkrieg vielen Naziverbrechern Unterschlupf gewährt hatte, darunter so berüchtigten Tätern wie Adolf Eichmann, dem Organisator der Judendeportationen, Josef Mengele, dem Auschwitz-Arzt und Klaus Barbie, dem »Schlächter von Lyon«.

Zum Schockerlebnis für Zeremoniäre und Glaubenshüter wurde der erste Gründonnerstag mit dem neuen Papst. Es ging um die traditionelle Fußwaschung, in der Kirche seit jeher ein Zeichen der Wertschätzung. Da Jesus seinen Jüngern die Füße gewaschen hatte, galt es jahrhundertelang als logische Konsequenz, wenn die Päpste jeweils zwölf Kardinälen diesen Dienst erwiesen. Und wer auserwählt war, betrachtete das als große Ehre. Später wurde in diesen erlauchten Kreis ebenfalls verdientes Fußvolk einbezogen – selbstredend nur Katholiken, nur Männer, allesamt rechtschaffene, wohlanständige Mitglieder der allein selig machenden Kirche; keine Frauen, keine Andersgläubigen und keine Häftlinge.
Und nun kam dieser Papst vom anderen Ende der Welt plötzlich daher und begab sich in ein römisches Jugendgefängnis, um dort die Füße von zwölf Insassen zu waschen. Und als wäre das nicht provokant genug, wählte er zudem zwei Frauen aus, die zu Allah beteten und den Propheten Mohammed verehrten. Weiblich, muslimisch, kriminell. Der Skandal war perfekt, und die Wellen der Empörung schlugen hoch - im Vatikan wie unter den Traditionswächtern weltweit. Auch der Hinweis, er habe das bereits als Erzbischof in Buenos Aires so gehalten, vermochte die Gemüter nicht zu beruhigen.

Ein Jahr später, jetzt kein »Berufsanfänger« mehr, zelebrierte er die Fußwaschung zwar nicht in einem Gefängnis, verletzte aber dennoch dem Verständnis vieler Traditionalisten zufolge fast sakrosankte Gepflogenheiten. Eine Initiative, bestehend aus Publizisten und Bloggern, hatte Franziskus aufgefordert, die Gründonnerstagsmesse - guter alter Sitte gemäß - in seiner Bischofskirche, der Lateranbasilika, mit der Gemeinde zu feiern. Diese Botschaft kam nicht an: Der Papst wählte eine Behinderteneinrichtung mit Insassen unterschiedlichen Glaubens, wusch ihnen die Füße und spendete das Abendmahl. Auch an Muslime? Die Kritiker ließen vernehmen, dass weder das Presseamt des Vatikans noch der Gefängniskaplan vom Jahr zuvor dementiert hätten. Man erinnere sich: Noch 2003 wurden beim sog. Ökumenischen Kirchentag in Berlin nach zwei Gottesdiensten mit Kommunion und Abendmahl in der Berliner Gethsemanekirche die beiden Priester Gotthold Hasenhüttl und Bernhard Kroll von ihren jeweiligen Bischöfen wegen Verstoßes gegen die Kirchendisziplin suspendiert und ihres Amtes enthoben.

Für mich als Frau, noch dazu jüdischer Abstammung, war es nicht ganz einfach, Recherchen für eine Biographie aufzunehmen. Indirekt ermunterte mich dazu auch Ernesto Cardenal, nicaraguanischer Dichter und ehemaliger prominenter Befreiungstheologe. Wenngleich Cardenal sich damals deutlich politischer und revolutionärer positionierte als Bergoglio, hielt er die Papstwahl für einen absoluten Glücksgriff. Er sagte zu mir: »Es ist das Beste, was der katholischen Kirche geschehen konnte. Es ist höchste Zeit für eine Reform der Kirche.«

Nun stand ich vor der Frage, welche Menschen ich interviewen sollte. Nur ehemalige Weggefährten, Priester, die mit ihm zusammengearbeitet hatten, Familienangehörige? Nein, nicht nur! Es mussten gerade auch Menschen aus der Peripherie sein, Bergoglios Ärmste der Armen aus den Villas Miseria (Elendssiedlungen). Zu den Prostituierten, zu den Gefängnisinsassen, denen der damalige Erzbischof die Füße an den Gründonnerstagen wusch und küsste, begab ich mich. Natürlich aber wollte ich auch etwas über seine eigene Familie erfahren.

Ich hörte von den norditalienischen Familienwurzeln Bergoglios – väterlicher- wie mütterlicherseits – von der wunderbaren Bewahrung bei der Ausreise der Großeltern und des Vaters nach Buenos Aires, als sie durch Italiens Bürokratie in der Zeit Mussolinis gezwungen waren, eine Schiffsumbuchung vorzunehmen, die ihnen das Leben rettete: Die ursprünglich gebuchte »Principessa Mafalda« sank 1927, wobei 300 Menschen ums Leben kamen.

Da war auch die Geschichte von Nonna Rosa bei der Ausreise, der fast schon legendären Großmutter, die mit einem Tischchen unter dem Arm zum Hafen von Genua lief, es alle paar Meter auf den Boden stellte und dann darauf stieg und lauthals gegen den »Duce« und seine Faschistenpartei protestierte. Man konnte ihr nichts anhaben, weil sie ihren letzten Gruß an die alte Heimat nicht von italienischem Boden aus, sondern von einem Tischchen gerufen hatte. Auch sie scheint sich, wie Bergoglio, vor nichts und niemandem gefürchtet zu haben.
Jorge Mario Bergoglio war ein Junge, der sich für Fußball, klassische Musik und Tango und für Literatur interessierte und sich als Zwölfjähriger zum ersten Mal verliebte. Seine erste große Liebe hieß Amalia, die Tochter des Nachbarn. Er schrieb ihr Briefe und zeichnete auf einem Blatt ein Häuschen mit rotem Dach und weißen Wänden. Darunter ein Herzchen mit dem Satz: »Das ist das Haus, das ich dir kaufen werde, wenn wir heiraten.« Als Rückmeldung verboten Amalias Eltern die unschuldige Kinderliebe. Jahre später, 1958, lernte er auf der Hochzeit eines Onkels ein Mädchen kennen, für das er erneut entflammte. Zu der Zeit besuchte er bereits das Priesterseminar und musste sich die Gefühle durch den Kopf gehen lassen. Aber seine Begeisterung für das Reich Gottes triumphierte.
Nichte María Inés erinnert daran, dass für den Onkel immer eine eiserne Familienregel galt: »Seid frei, mahnte er uns, verliert nie die Freiheit zu sagen, was ihr denkt.«
Bei meinen Recherchen im Rotlichtviertel in Constitución, wo Bergoglio Messen feierte, zu denen auch viele Prostituierte strömten, schilderte mir die Hure Isabella das folgende Erlebnis: „Als die Messe vorüber war, kämpfte ich mich durch die Menge bis zu ihm vor und sagte zu ihm: ‚Pater Jorge, ich bin eine Sünderin!‘ Daraufhin antwortete er mir: ‚Wir sind alle Sünder.‘ Ich bat ihn, mich und meinen Rosenkranz zu segnen. Er hat es getan.“

Bei seinen Besuchen in den Gefängnissen ermutigte Bergoglio Häftlinge mit dem Satz »Alle sind Gotteskinder und alle sind Sünder auf dieser Welt«. »El Polilla« (»Die Motte«), ein berüchtigter Gefangener, der heute noch sitzt, erinnert sich: »Einmal, als ich sehr krank war, sorgte er dafür, dass ich die richtigen Medikamente bekam und dass sie immer rechtzeitig geliefert wurden. Dass er Papst geworden ist, gibt uns allen mehr Hoffnung und Zuversicht.«
Auch Slumbewohner und Dritte-Welt-Priester legen ein sehr interessantes Zeugnis ab. So erinnert sich Feliciana, Mutter von 10 Kindern: »Pater Jorge Mario Bergoglio hat uns immer geholfen, uns besucht und mit uns Matetee getrunken. Er hat Rehabilitationszentren, Pfarreien, Schulen und Sportplätze in den Slums errichten lassen. Täglich telefonierte er mit den Priestern dort und ließ sich von den Problemen berichten, und es war für ihn ein gewonnener Tag, wenn er sie lösen konnte.« Die Kirchners, obwohl sie zu Beginn ihrer Präsidentschaft das Wohl der Armen auf ihre Fahnen geschrieben hatten, fanden nie zu einem Konsens mit ihrem Erzbischof. Allerdings gab es zwischen der Regierung und Bergoglio von vornherein grundlegende Differenzen. Ich glaube, dass Bergoglios entschiedene Ablehnung der kirchnerschen Politik auch persönliche Gründe hatte. Denn als ein Mensch, der nicht nur zur Bescheidenheit, Armut und Demut aufrief, sondern diese selbst praktizierte, rieb er sich ständig am politischen Stil der Kirchners, an dieser taktlosen Zurschaustellung von Macht und Reichtum. Grund genug, die Kathedrale von Buenos Aires als Podium für eine Generalabrechnung zu nützen. Und während er die politische Klasse anhaltender Korruption bezichtig­te, – sein Lieblingsthema – und ihr vorwarf, die Fürsorgepflicht für die Armen zu verletzen, revanchierte sich Nestor Kirchner damit, Jorge Bergoglio als heimlichen Oppositionsführer oder gar als »Teufel im Talar« zu bezeichnen. Den Erzbischof focht das nicht an. Jahr für Jahr griff er das Thema, das ihn nicht ruhen ließ, erneut auf: die Verstrickung des Landes in Ungerechtigkeit und Korruption.

Auch Bergoglio kann die Jahre der Militärdiktatur in Argentinien zwischen 1976 und 1982 nicht vergessen und den dunklen Schatten dieser Zeit nicht entrinnen. Dass er damals das für ihn Mögliche tat, ohne dabei auf sich selbst zu achten, bezeugen nicht nur Freunde und Gerettete, sondern desgleichen Personen, die eine ganz andere Einstellung hatten als er. Meine Spurensuche nach ehemaligen Weggefährten von Papst Franziskus führte mich sogar bis weit ins argentinische Hinterland, in die Provinz La Rioja, wo auf mich Pater Enrique Martinez Ossola mit einer sehr interessanten Geschichte wartete. Er schilderte mir, wie Bergoglio ihm und noch zwei anderen in der Zeit der Militärdiktatur das Leben gerettet hat. Bergoglio, zu der Zeit Provinzial der Jesuiten im Collegium Maximum, versteckte monatelang Priester und Seminaristen vor dem Militär. Zivilcourage und Kompromissbereitschaft prägten sein Handeln und tun es noch.
Meine hier nur kurz vorgestellten Ausführungen zeigen, dass Papst Franziskus die Konflikte in der Welt und in seiner Kirche pragmatisch und – soweit ich das beurteilen kann – weniger theologisch angeht; vieles hat er angestoßen und einiges schon bewegt – so wie damals in Argentinien. Er hat wesentlich dazu beigetragen, dass man von einer beginnenden Versöhnung zwischen der Zuckerinsel Kuba und den USA sprechen kann. Sein Bemühen um Frieden und Gerechtigkeit in der Welt kann man nur unterstützen. Trotz seines Appells konnte er allerdings nicht verhindern, dass weiterhin Waffen an die Assad-Gegner in Syrien geliefert werden, und mit seinem Besuch und seiner Rede in Lampedusa lief er bislang noch vergeblich dagegen an, das Mittelmeer nicht zum Massengrab für Flüchtlinge werden zu lassen. Die rechte Presse in Deutschland verhöhnte seine Rede, dass der Kapitalismus eine Form des Todes sei; er solle sich lieber – so die vorgetragene Meinung – um den freien Markt kümmern, der Freiheit und Wohlstand schenkt.
Ob Bergoglio erfolgreicher ‚Revolutionär von oben‘ ist, kann man bezweifeln. Auf alle Fälle aber setzt er Zeichen der Hoffnung an oberster Stelle, auch dann, wenn er mit Juden und Muslimen gemeinsam betet. Dabei sollte jeder erkennen, dass sich die Religionen nicht im Namen Gottes widersprechen dürfen.
Man wirft dem Papst vor, dass er im Gegensatz zu seinem Vorgänger zu wenig theologisch fundiert denke und handle. Doch was hilft alle Theologie, wenn sie am Menschen vorbeigeht? Franziskus rammt durch sein Handeln neue Pflöcke in den verkrusteten Boden, und die katholische Theologie wird wohl über kurz oder lang dem nicht mehr nachhinken dürfen. Ich jedenfalls, als Jüdin, freue mich über diesen christlichen Papst, der, so wie jener Jesus von Nazareth, den Menschen sieht. Ich hoffe, dass Bergoglio nicht so scheitert wie Jesus damals – angeklagt und kaltgestellt von denen, die sich auf Gottes Seite dünkten.