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500 Jahre Reformation  
Ausgabe: 177/2016

500 Jahre Reformation

Was hat uns Martin Luther heute noch zu sagen?

                                                 Christian Nürnberger

 

Der Reformator Martin Luther hat innerhalb von vier Jahren die Legitimität des Papstamtes bestritten, den Papst als Antichrist beschrieben, das Priesteramt ab- und die weltlichen Berufe aufgewertet, Mönche und Nonnen für überflüssig erklärt, das Priestertum aller Gläubigen begründet, den Laien das Recht auf Mitbestimmung in der Kirche zugesprochen, das Abendmahl neu interpretiert, die Zahl der Sakramente von sieben auf zwei reduziert, die Heiligen- und Reliquienverehrung abgeschafft und den ganzen christlichen Glauben auf drei Säulen gestellt: allein der Glaube, allein die Gnade, allein die Schrift.

Fragwürdiges Lutherlob im Laufe der Jahrhunderte

Dass Luther in wenigen Jahren etwas Großes geleistet hatte, war ihm und seinen Zeitgenossen durchaus bewusst. Das tatsächliche Ausmaß seiner Leistung wurde seinen Anhängern und Gegnern jedoch erst mit wachsendem zeitlichen Abstand klar. Entsprechend wuchs mit jedem Jahrhundert die Höhe des Sockels, auf den er von seinen Anhängern gestellt wurde. Irgendwann stand er dann so hoch über allen, dass der Mensch Luther allmählich unsichtbar wurde und sich in eine Projektionsfläche verwandelte, auf der jeder sehen konnte, was er zu sehen wünschte. Jede Generation malte sich ihr eigenes Luther-bild, und damit angefangen hatte schon zu Luthers Lebzeiten Lucas Cranach, der Luther je nach Bedarf »als Mönch, Junker und Herkules« portraitiert hatte, dann zunehmend ausschließlich als Professor in seinem schwarzen Wittenberger Talar mit dem zugehörigen Barett. So war es praktisch unvermeidlich, dass sich die von Cranach produzierte Ikonographie verselbständigte, und darum nicht verwunderlich, dass er im Zuge dieser fortgesetzten Lutherbild-Produktion vereinnahmt und für alle möglichen Interessen vor den Karren gespannt wurde.
In dieser Hinsicht war dann das erste große Reformationsjubiläum noch das unschuldigste. Die Lutheraner hätten es beinahe vergessen und mussten von der innerkonfessionellen Konkurrenz der Calvinisten daran erinnert werden, dass sich am 31. Oktober 1617 der Thesenanschlag zum hundertsten Mal jährt.
Beim 200. Jubiläum im Jahr 1717 sah die Sache dann schon anders aus. Selbstbewusst feierten die Protestanten ihren Luther.
Ab dem dritten Jubiläum geriet die Sache Luthers ins Rutschen. Man hörte leider nicht auf Johann Wolfgang von Goethe, der ein knappes Jahr vor dem Reformationsjubiläum des Jahres 1817 in einem Brief geschrieben hatte, „dieses Fest wäre so zu begehen, dass es jeder wohldenkende Katholik mitfeierte“. Da war der Kosmopolit Goethe seiner Zeit und der ganzen Ökumene weit voraus. Der Nationalismus hatte die Köpfe erfasst, für diesen wurde Luther vereinnahmt als deutscher Held, pflichtbewusster Hausvater, vorbildlicher Untertan. Zahlreiche Reden waren getränkt mit antifranzösischen Ressentiments und Antipathien gegen den Geist der Französischen Revolution.
Ein weiteres Jahrhundert später, 1917, war die aggressiv-nationalistische Saat aufgegangen. Man befand sich im Krieg mit Frankreich. Luther wurde vor den Karren des Ersten Weltkriegs gespannt als Retter der Deutschen, Vorbild für Kampfeswillen, Soldat gegen den Feind. »Ein feste Burg ist unser Gott« wurde das Kampflied der deutschen Soldaten.
Das war aber noch nicht der Tiefpunkt. Der kam 1933, das Jahr, in dem Adolf Hitler Reichskanzler wurde, und die „Deutschen Christen“ begannen, „Heil Hitler“ zu rufen, ihre Kirchen mit Hakenkreuzen zu beflaggen und im weiteren Verlauf alle Verbrechen Hitlers, der Wehrmacht und der SS gutzuheißen.
Die Bekennende Kirche leistete zwar Widerstand, aber vorsichtig und schwach. Nur ein paar Einzelne, wie etwa Dietrich Bonhoeffer, Martin Niemöller und Helmut Gollwitzer riskierten ihr Leben und haben damit dem Protestantismus einen kleinen Rest von Ehre gerettet. Alle drei waren sehr einsam in ihrer Kirche. Bonhoeffer hat seinen Widerstand mit dem Leben bezahlt und spielt meines Erachtens bis heute nicht die Rolle in der Kirche, die ihm eigentlich gebührt, auch theologisch nicht.
Die Geschichte der Vereinnahmungen Martin Luthers wäre nicht komplett ohne einen Seitenblick auf die ehemalige DDR. Deren Held war naturgemäß der Führer des Bauernaufstands Thomas Müntzer. Das änderte sich in der Spätphase der DDR. Plötzlich stieg Luther vom Fürstenknecht zum Exponenten der »frühbürgerlichen Revolution“ auf. Der Grund dafür war ein einfacher: Geld.
Die klamme DDR-Regierung brauchte dringend Devisen. Daher bot sich an, Luthers 500. Geburtstag im Jahr 1983 groß zu feiern. Hintergedanke: Touristen werden ins Land kommen und die ersehnten Devisen mitbringen.

 

Lutherjubel 2017

Der Eindruck, dass Luther nun im Jubiläumsjahr 2017 auch wieder Touristen ins Land locken soll, besonders nach Ostdeutschland, lässt sich nicht von der Hand weisen, wenn man sieht, wie Luther seit Jahren schon in Erfurt, Eisenach, Wittenberg, in ganz Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt für das Stadt- und Bundesland-Marketing eingespannt wird. Wieder erhofft man sich Touristen, Geschäfte, ein positives Image mit Hilfe Luthers, obwohl doch die Zahl der Kirchenmitglieder - gleich ob evangelisch oder katholisch - gerade in Luthers eigenem Wirkungsbereich einen historischen Tiefstand erreicht hat. In Sachsen-Anhalt, wo einst mit Wittenberg das „reformatorische Rom“ lag, sind heute 80 Prozent der Bevölkerung konfessionslos. In Leipzig und Sachsen grölen viele Menschen Pegida-Parolen, in Mecklenburg-Vorpommern ist die Partei, in der das Wort „völkisch“ als wieder zeitgemäß gilt, zur zweitgrößten Partei gewählt worden. Statt Marketing müsste man eigentlich Missions- und Aufklärungsarbeit betreiben.
Auch die EKD erhofft sich einen Imagegewinn von Luther, und wenn schon keinen nennenswerten Mitgliederzulauf, dann doch wenigstens einen Rückgang der Kirchenaustritte.

 

Wozu man Luther und den Protestantismus heute noch braucht

Aber warum sollte man heute wegen Luther in die Kirche eintreten? Was hat er uns denn heute zu sagen? Hat er uns überhaupt noch etwas zu sagen? Und zudem, wozu braucht man die Protestanten noch?
Ich will bei meiner Antwort die Aufmerksamkeit auf ein Faktum lenken, über das wir kaum, oder wenn, dann zu einseitig sprechen. Das Faktum lautet: Religionen nerven. Ihre Anhänger bekämpfen einander, hassen sich, bringen sich gegenseitig um oder köpfen »die Ungläubigen« vor laufender Kamera. Schiiten gegen Sunniten gegen Alawiten gegen Aleviten und alle gegen die Juden. Muslime gegen Christen. Hindus gegen Muslime. Liberale Juden, Protestanten und Katholiken gegen konservative Evangelikale, Traditionalisten, Orthodoxe.
Alle zusammen nerven besonders einen: den modernen, westlichen, einigermaßen aufgeklärten Durchschnittstyp, dessen absolute Wahrheit lautet, dass es keine absolute Wahrheit gibt, und wenn es sie doch geben sollte, keinem Sterblichen zuteil wird, und das, so dachte dieser moderne Mensch noch bis vor kurzem, sei eigentlich Konsens unter allen Vernünftigen, zumindest in Mitteleuropa.
Daher stand der moderne Mensch den Religionen in der jüngeren Vergangenheit mit wohlwollender Gleichgültigkeit und desinteressierter Toleranz gegenüber. Doch damit geht es nun zu Ende, seit der durchschnittliche Mitteleuropäer mit allerlei Forderungen konfrontiert wurde, von denen er nicht weiß, wie er sich dazu verhalten solle: Kreuze raus aus den Schulen, Gebetsräume für Muslime rein, Speisegebote, Tanzverbot am Karfreitag, keine Fußballspiele am Totensonntag, Kopftücher, Burkas, Minarette, Schächten, Beschneidungen der Vorhaut und Beschneidungen der Meinungsfreiheit aus Rücksicht auf religiöse Gefühle oder aus Gründen der Sicherheit, Diskussionen über eine Verschärfung des Blasphemie-Paragrafen, Angst vor islamistischem, aber auch rechtsradikalem Radikalismus, Angst vor Terror und Gewalt, No-Go-Areas in unseren Städten, Flüchtlingselend vor unseren Grenzen - die Zahl der religiös und kulturell bedingten Konflikte nimmt zu in aller Welt.
Ihre Zahl steigt mit der Zahl der Einwanderer, die ihre kulturellen und religiösen Hintergründe mitbringen. Der normale alteingesessene Mitteleuropäer möchte davon eigentlich nicht behelligt werden, aber ist gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen, obwohl er nicht besonders bibelfest ist und vom Koran in der Regel überhaupt nichts weiß.
Er versteht nicht, warum die Identität eines Mannes an dessen Vorhaut und die Ehre einer Familie am Jungfernhäutchen der Tochter hängen soll. Er weiß nicht, worum es beim Abendmahlsstreit zwischen Protestanten und Katholiken geht, und will es auch gar nicht wissen, auch nicht, was am Schwein schlechter oder unreiner sein soll als am Schaf. Er versteht nicht, wie sich einzelne fehlbare, irrende Menschen als Papst, Imam oder Oberrabiner anmaßen können, verbindliche Wahrheiten für alle zu formulieren. Und noch weniger versteht er, dass sich im 21. Jahrhundert Millionen Einzelne tatsächlich dem jeweiligen Diktum ihrer Autoritäten unterwerfen, und sich von diesen bis in ihr Sexualleben und ihre Essensgewohnheiten hinein vorschreiben lassen, was schicklich sei, statt von ihrem eigenen Verstand Gebrauch zu machen.
Es fällt einem modernen, säkularen Menschen schwer, solch einem Verzicht auf selbstständiges Denken den Respekt zu zollen, der von den Autoritäten - allen voran den islamischen - ziemlich laut eingeklagt wird. Dennoch hält er es, wenn auch kopfschüttelnd, aus Gründen der Toleranz und der Religionsfreiheit, für nötig, die Religionen mit ihrem bunten Treiben gewähren zu lassen.
Nur: Sympathischer werden ihm die Religionen dadurch nicht.

 

Überlebensnotwendige Verständigung
über Grundregeln des multikulturellen Zusammenlebens

Das schafft ein weiteres Problem: Gerade jene multiethnischen, multikulturellen, multireligiösen Gesellschaften, die seit einigen Jahrzehnten und mit wachsendem Tempo in Europa entstehen, brauchen eine Verständigung darüber, wie sie einem Zerfall dieser Gesellschaften in Antagonismen entgegenwirken und statt dessen freundlich miteinander leben und arbeiten können. Dafür sind einige Grundregeln nötig, an die sich alle, aber auch wirklich, alle zu halten haben, und die nicht verhandelbar sind.
Wo aber wäre der Ort, an dem eine überlebensnotwendige Verständigung über Grundregeln des multikulturellen Zusammenlebens stattfinden könnte? Wer könnte die vielen verschiedenen Menschen zusammenbringen, ein Gespräch über die Regeln organisieren, moderieren und für deren Akzeptanz werben? Die politischen Parteien? Denen glauben nur noch wenige etwas. Der Staat? Auch ihm wird misstraut. Also die Kirchen? Ja, aber - und das sage ich an dieser Stelle mit einer gewissen Härte - nicht die katholische. Es geht derzeit eher mit der evangelischen, denn es erweist sich nun, dass die ihr in der Vergangenheit oft vorgeworfene und teilweise von ihr selbst so empfundene »Profillosigkeit« in Wahrheit eine Stärke ist.
Ein Profil ist etwas Starres, hat zwar wegen seiner klar definierten Struktur eine hohe Wiedererkennbarkeit, aber was nützt das, wenn das Profil in der Realität nicht greift, nicht auf sie passt? Winterreifenprofile sind nützlich bei Schnee und Matsch, im Sommer gefährdet der ganze Reifen mit seiner für niedrige Temperaturen konzipierten Gummimischung die Sicherheit des Fahrers. Was es bräuchte, wäre ein Reifen mit dynamischem Profil, das sich jeder neuen, auch unvorhersehbaren Situation anpasst.
Über diese Dynamik und Flexibilität verfügt der Protestantismus wie keine andere Religion, weil deren Mitglieder zwar an eine gemeinsame Wahrheit glauben, aber den Versuch unterlassen, diese Wahrheit festzuzurren.
Protestanten wissen, dass sich die eine, absolute, für alle Zeiten und alle Menschen gültige Wahrheit weder erkennen noch formulieren lässt. Sie wissen, dass jedes Gemeindemitglied immer nur seine eigene jeweilige Teilwahrheit lebt, geben den Glauben an eine »gemeinsame Wahrheit dahinter« trotzdem nicht auf und wirken daher immer rührend hilflos, wenn sie über diese »Wahrheit dahinter« Auskunft geben sollen. Darüber zanken sie auch unentwegt, aber jedes Gezänk endet irgendwann mit der Einsicht: Wir sind alle Gottes Kinder, und darum haben wir die Pflicht, uns zu vertragen, auch dann, wenn wir uns über die eine oder andere Frage nicht einigen können.
Und tatsächlich vertragen sie sich dann wieder, mancher grollend, mancher murrend, mancher unbelehrbar seine eigene Wahrheit für die ganze nehmend, aber sie bleiben beieinander und lernen, einander auszuhalten und wie nebenbei: Konfliktmanagement, Mediation, Moderation. Sie lernen ihre eigene Unsicherheit, Unschärfe, Unbestimmtheit zu akzeptieren. Sie lernen, dass alle großen Probleme komplex und differenziert zu betrachten sind, und wenn sie das dann in ihren Denkschriften ausformulieren, kommen Texte von gähnend-langweiliger Ausgewogenheit zustande, die jeden Leser sedieren. Aber fast immer sind es Texte auf hohem Reflexionsniveau, derer man sich als Protestant nicht schämen muss.
Also gerade wegen seiner seltsamen Unbestimmtheit passt der Protestantismus besser in eine multikulturell-säkulare Individualistengesellschaft als jede andere Religion, den uns fremden Buddhismus vielleicht ausgenommen. Der Protestantismus passt auch besser in unsere Welt, weil er für deren Probleme - von der Umwelt über das Klima, die soziale Gerechtigkeit und den Überwachungsstaat - »den Kopf frei hat«, während der Katholizismus sich endlos quält mit seinen »heiligen drei Kühen«: Pille, weibliche Priester, Homosexualität gleich Sünde. Dazu kamen in der jüngsten Vergangenheit noch die Missbrauchsskandale und der sogenannte Protzbischof von Limburg.

 

Karl Barth, Rudolf Bultmann und Dietrich Bonhoeffer
als theologische Helfer

Die katholische Kirche hat jetzt und noch eine geraume Zeit mehr mit sich selbst zu tun als mit der Welt und den letzten Wahrheiten. Hinzu kommt: Ihr fehlen drei Theologen, die die Protestanten haben: Karl Barth, Rudolf Bultmann und Dietrich von Bonhoeffer. Barth müssen wir jetzt aus Platzgründen weglassen. An Bultmann und Bonhoeffer jedoch kommen wir nicht vorbei. An Bultmann nicht, weil er kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen aufsehenerregenden Vortrag gehalten hatte, der beinahe zu seinem Rausschmiss aus der Evangelischen Kirche geführt hätte.
In diesem Vortrag hatte Bultmann gesagt, all die Wundergeschichten, die in der Bibel stehen, diese Geschichten über Engel, Dämonen und den Teufel, die Einteilung der Welt in die drei Stockwerke Himmel, Erde, Hölle - das alles seien keine Berichte historischer Ereignisse, sondern Mythen.
Mythisch sei die Schilderung von Christus als einem präexistenten Gotteswesen, das sich auf Erden als Mensch inkarniert, die Sünden der Menschen auf sich nimmt, dafür am Kreuz stirbt, am dritten Tage aufersteht, in den Himmel fährt, von dort wieder zurückkommt, und nach einem Ablauf verschiedenster kosmischer Katastrophen die Toten aufweckt, vor Gericht stellt und die gesamte Menschheit in Selige und Verdammte scheidet.
Dies alles seien Geschichten, die aus antiken Mythen, spätjüdischer Apokalyptik und gnostischen Erlösungsphantasien komponiert wurden, und diese seien durch das moderne Weltbild erledigt.
Erledigt ist damit aber auch Luther. Luther, wenn er plötzlich als der wiederkäme, der er war, und läse, was Bultmann geschrieben hat und hörte, welche Theologie an unseren Universitäten gelehrt wird, würde sich schaudernd abwenden, Bultmann als Teufel bezeichnen und der evangelisch-lutherischen Kirche befehlen, seinen Namen aus ihrem Firmenschild zu tilgen. Eben diese Kirche ist aber durch Bultmann gerettet worden.
Er hat mit seinem Entmythologisierungsprogramm die protestantische Kirche auf den geistigen Stand ihrer Zeit gebracht und sie damit anschluss- und diskursfähig gemacht im Streit mit der Wissenschaft und dem Atheismus - was manch militanter, noch dem 19. Jahrhundert verhafteter Atheist vom Schlage eines Richard Dawkins offenbar noch nicht bemerkt hat.
Für die Theologie gibt es daher aber auch kein intellektuell redliches Zurück mehr hinter Bultmann und damit auch kein Zurück mehr zu Luthers zeitbedingtem Hexen-, Dämonen-, Teufels- und Höllenglauben. Statt dessen markiert Bultmann eine Wegmarke, die von den diversen Katholizismen, Orthodoxien und Islamismen erst noch erreicht werden muss. Aber genau darum sind Protestanten bessere Gesprächspartner für moderne Menschen - und vielleicht auch bessere Geburtshelfer für einen modernen Islam - als ans Dogma gefesselte Katholiken oder militante Atheisten, denen das ganze „religiöse Gedöns“ sowieso auf die Nerven geht.
Die nächste Wegmarke, die Religionen erreichen müssen, wenn sie denn eine Zukunft haben wollen, ist Dietrich Bonhoeffers religionsloses Christentum. Dieses auf den Kern reduzierte Christentum ist nicht mehr Religion, sondern Glaube, und als solcher ist er Aufklärung, Religionskritik, Herrschafts- und Autoritätskritik, Kritik auch an einer Religion namens Kapitalismus, Kritik der Götzen Reichtum, Erfolg, Karriere, Schönheit, Dünnsein, Fitness. Mit Bonhoeffer kommt der Glaube von den Nebensachen - Riten, Dogmen, Speiseverbote, Reinheitsgebote, Äußerlichkeiten, Erfolgsgebote - zur Hauptsache. Darin geht’s nicht ums Jenseits, sondern ums Hier, nicht um die Zukunft, sondern um das Jetzt und um die Frage: Was ist das gute Leben, und was muss getan werden, um das gute Leben jetzt und hier zu ermöglichen?
Mit Bonhoeffer hätte Luther weniger Probleme gehabt, obwohl natürlich auch Bonhoeffer Bultmanns Theologie gegen Luther verteidigt hätte. Aber dass sich der Wert und die Würde eines Menschen nicht aus seiner Leistung - seinen Werken - speisen, darin hätte Luther eine akzeptable Form seiner Rechtfertigungslehre erkannt. Bonhoeffers aktiven Widerstand gegen Hitler wiederum hätte Luther kritisiert. Auch die „Deutschen Christen“ hätte er natürlich verurteilt, aber vermutlich noch heftiger den gewaltsamen Widerstand gegen die Regierenden - da hätte er gesagt: das ist nicht lutherisch, sondern müntzerisch.

Der lutherische Stachel im Fleisch der protestantischen Kirchen

Mit großem Interesse hätte Luther registriert, dass einige seiner alten Streitfälle mit den Humanisten bis heute nicht geklärt sind. Ob der Mensch einen freien Willen habe oder von Natur aus gut sei, diese Fragen sind weiter unentschieden.
Mit großer Zustimmung und zugleich mit einem gewissen Erstaunen hätte Luther bei dem Atheisten Sigmund Freud gelesen: Ein gern verleugnetes Stück Wirklichkeit bestehe darin, dass der Mensch nicht ein „sanftes ... Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern dass er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf“. Homo homini lupus, der Mensch ist des Menschen Wolf – „wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten“?
Der jüdische Aufklärer Freud bestätigt damit Luthers pessimistisches Menschenbild, und nicht das optimistische des Humanismus und der Aufklärung.
Wie einst Luther quer zu seiner Zeit stand - weder römisch, noch humanistisch - so stehen Freud und dessen Anhänger heute quer zum weit verbreiteten Glauben an das Gute im Menschen. Und so wie er einst den Humanisten Erasmus von Rotterdam gerügt, ja fast verachtet hatte wegen dessen oft unentschiedener Haltung, so würde er heute die oft unentschieden erscheinende sowohl-als-auch-Haltung der evangelischen Kirche geißeln.

Es tut dieser Kirche gut, so einen lutherischen Stachel im Fleisch zu haben, ihm aber nicht zu sehr nachzugeben, denn mit lutherischer Sturköpfigkeit ist heute kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Moderne Protestanten haben sich längst von Luther emanzipiert, und genau darin, dass sie ihrem herrischen Lehrmeister, wo es nötig ist, selbstbewusst widersprechen, erweisen sie sich als wahrhaft lutherisch, denn wahrhaft lutherisch ist es nun mal, keinen Papst zu akzeptieren, auch keinen evangelischen.

Die Aufgabe der protestantischen und katholischen Kirche heute

Daher ist es gerade die aus dem Geist des Luthertums kommende Widerständigkeit, wegen der die Protestanten heute gebraucht werden. Ihre gesunde Skepsis gegenüber Macht, Autorität und Dogmatismus ist umso nötiger in einer Zeit, in der immer mehr Politiker, Despoten, Diktatoren und religiöse Autoritäten ihre Machtansprüche und Wahrheiten durchzusetzen versuchen. Im protestantischen Anspruch, auf Augenhöhe mit der Wissenschaft und dem Atheismus zu disputieren und jedes Dogma infrage zu stellen, auch das wissenschaftliche und atheistische, steckt eine Überlegenheit, welche hilft, mit den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft besser fertig zu werden als all jene, die sich auf die traditionelle Religionsausübung mit ihren unhinterfragten Dogmen, Ritualen und Anmaßungen beschränken. Gebraucht werden die Protestanten auch überall dort, wo der Wert eines Menschen an seinen Werken gemessen und fremden Göttern - Macht, Reichtum, Besitz, Schönheit, Kapital, Wachstum, die Nation, die Klasse - gehuldigt wird. Protestanten haben dank ihrer Lektionen aus der Vergangenheit gelernt, in der Welt mitzuwirken, aber sich gleichzeitig zurückzunehmen. Deshalb ist der Protestantismus so zeitgemäß und so gut geeignet, im Dialog der Religionen eine führende Rolle zu spielen.
Die katholische Kirche wird deshalb nicht überflüssig. Ihr Papst wird weiterhin gebraucht, um den Christen in der Welt eine Stimme zu verleihen. Wenn er den Kapitalismus kritisiert, wird er auf der ganzen Welt gehört. Wenn der EKD-Ratsvorsitzende das tut, stößt das auf begrenztes Interesse. Darum spricht der Papst, wenn er sich für Frieden, Freiheit und gegen die Herrschaft des Geldes ausspricht, immer auch für die Protestanten mit. Sagt er aber, Frauen taugten nicht als Priester, die Pille zu nehmen verstoße gegen göttliches Gebot, und Homosexualität sei Sünde, dann widersprechen die Protestanten, und darin sprechen sie auch vielen Katholiken aus dem Herzen.
Eigentlich ist es also gar nicht so ein großes Unglück, dass es die eine große katholische Kirche und die vielen kleinen chaotischen Schrebergartenkirchen des Protestantismus und darüber hinaus noch die bunte Vielfalt der anderen Religionen gibt. Wenn sie klug sind, fordern sie einander heraus, korrigieren einander, sichern damit ihr gemeinsames Überleben, und bei allem Streit und allen Differenzen gehören sie doch zusammen.
Und was klug ist, dafür ist die Großmutter des israelischen Schriftstellers Amos Oz ein wunderbares Beispiel. Zum ewigen Streit zwischen Juden und Christen, ob der Messias schon gekommen sei, wie die Christen glauben, oder erst noch kommen wird, wie die Juden glauben, sagt sie: Ist es so wichtig? Warum kann nicht jeder einfach abwarten und schauen? Falls der Messias kommt und sagt: ‚Hallo, schön euch wiederzusehen!’, müssen die Juden nachgeben. Falls er aber sagt: ‚Hallo, wie geht`s? Schön, mal hier zu sein!’, wird die gesamte christliche Welt sich bei den Juden entschuldigen müssen.“
Wer wen wofür und warum um Vergebung bitten muss – das wäre eine Frage, die zum 500. Reformationsjubiläum nicht vergessen werden sollte.

 

Bilderserie: »Gemeinsam unterwegs« (Christoph Ranzinger)