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Zeige deine Wunde  
Ausgabe: 178/2017

Zeige deine Wunde

Gottesbeziehung (wieder) finden

                                                             Christoph Seidl

»Mission? –  Nein, danke!«

In Erfurt gibt es eine »Katholische Arbeitsstelle für missionarische Pastoral« – eine Einrichtung der deutschen Bischofskonferenz. Deren Auftrag ist es, in einer sich stark verändernden Gesellschaft neue Formen und Grundhaltungen zu entdecken, wie der Glaube an Gott überzeugend und lebendig zu verkündigen sei. Diese Arbeitsstelle wurde nach der Wiedervereinigung Deutschlands bewusst im Gebiet der neuen Bundesländer verortet. So sollte von Anfang an das Programm deutlich werden: Wir versuchen, den christlichen Glauben neu zu buchstabieren – durch Menschen, die nicht mehr bewusst nach Gott fragen in einer Gegend, in der Glaubenstraditionen so gut wie keine Rolle mehr spielen. Das Wort »missionarisch« mag in diesem Zusammenhang aufs erste Hören abschrecken – zu stark werden noch die Erinnerungen an Kreuzzüge und Höllenpredigten, Disziplinierung und Sündenstrafen geweckt! Als Krankenhauspfarrer habe ich oft in erschreckte Gesichter geschaut, wenn ich »einfach so« Patienten besuchte: »Pfarrer sind Sie? O Gott, nein danke! Ich möchte nicht missioniert werden!« Krankenhausleitungen versuchen immer öfter den Seelsorgenden den Zugang zu den Patientenzimmern zu verwehren: sie wollen nicht, dass die »Kunden« missioniert werden! Möglicherweise werden Bilder von Zeugen Jehovas geweckt, die mit ihrem »Wachturm« auf sich aufmerksam machen und missionieren wollen. Vielleicht tauchen auch Erinnerungen an unsensible Seelsorger alter Zeiten auf, die den Schwerkranken das schwarze Kruzifix vors Gesicht hielten, um sie in »letzter Sekunde« noch zu bekehren. All das schwingt notgedrungen mit. Doch das ist nicht gemeint, wenn heute von »missionarischer Pastoral« die Rede ist. Vielmehr geht es darum, Menschen dort abzuholen, wo sie sind und wo sie leben, um ihre Situation, ihre Lebenswirklichkeit zu sehen und zu verstehen. Vielleicht kann ihnen dabei gezeigt werden, dass die Liebe und der Segen Gottes sie schon immer unmerklich begleitet haben. Ein Wort von Paul Claudel (1868-1955), dem französischen Schriftsteller und Diplomaten, mag verdeutlichen, worum es bei »Mission« heute gehen könnte: »Rede nur, wenn du gefragt wirst, aber lebe so, dass man dich fragt!« Dazu ist es notwendig, dorthin zu gehen, wo die Menschen sind, wo sie leben, lieben und leiden. Nur in den Lebenswelten der Menschen selber kann man aufspüren und nachvollziehen, wonach sie sich sehnen und was sie wirklich brauchen. Dann erst wenn ihnen jemand begegnet, der ihnen glaubwürdig erscheint, werden sie fragen. Man trifft sie wohl nicht in der Kirche, aber man trifft sie!
Eine Begebenheit, die mir vor einiger Zeit widerfahren ist, kann anschaulich davon erzählen.

 

Glaubensnot heute – ein Beispiel

Ich will eigentlich nur rasch ein Buch besorgen als Geburtstagsgeschenk für einen Freund. Unentschlossen stehe ich am Regal. Eine Buchhändlerin kommt zu mir. »Kann ich Ihnen helfen, Herr Seidl?«, fragt sie. Oh, denke ich, wieder mal der Fall, dass mich jemand mit Namen anspricht, den ich gar nicht in meiner Erinnerung einordnen kann. »Ich bin sehr unentschlossen«, antworte ich. »Momentan weiß ich noch gar nicht recht, wo mein Herz hin hängt.« »Wo mein Herz hinhängt,« wiederholt sie leise vor sich hin, »da treffen Sie einen wunden Punkt in mir.« Ich lasse die Bücher sinken und wende mich ihr zu. »Ich wollte Sie schon lange mal ansprechen,« fährt sie fort, »aber es ergab sich nie die Gelegenheit. Könnte ich Sie vielleicht mal zu einem Gespräch aufsuchen?« Ein paar Tage später kommt die Dame zu mir und sie beginnt zu erzählen:

 

 

 

 

 

»Wissen Sie, ich bin eigentlich sehr katholisch aufgewachsen, da gab‘s wenig nachzudenken. In die Kirche ging man, da wurde nicht lange diskutiert. Aber dann gab es Ereignisse, die mein Leben und auch meinen Glauben gründlich durchgeschüttelt haben. Vor 15 Jahren hat sich mein Mann von mir getrennt. Seitdem kam ich mir irgendwie amputiert vor. Nicht nur als verlassene Ehefrau, sondern auch als unanständiges Gemeindemitglied. Ich habe es gespürt, wie manche gesprochen und geschaut haben. Als dann jemand sagte: ‚Du musst ja nicht unbedingt zur Kommunion gehen‘, war für mich lange Zeit der Ofen ganz aus. Als ich mich langsam wieder an meine Kirche anzunähern versuchte, da kam die Missbrauchsgeschichte. Ich will da über niemanden den Stab brechen. Aber als dann in einem Gottesdienst ein Pfarrer sagte: ‚Das ist doch alles nur eine böse Pressekampagne.‘ – da wusste ich gar nicht mehr, ob ich dazu gehören will. Bei einem persönlichen Gespräch mit dem Pfarrer hörte ich nur: ‚Da kann ich Ihnen jetzt auch nicht helfen!‘
Tja, und dann verhielt es sich mit meinem Glauben plötzlich sehr seltsam. Ich weiß nicht warum, aber der Besuch des Gottesdienstes sagt mir nichts mehr. Ich bin einfach so enttäuscht. Ich bin so sprachlos geworden. Ich fühle mich so allein gelassen. Für mich sind so entsetzliche Dinge geschehen, dass meine Verbindung zu Gott einfach abgeschnitten wurde. Ich hatte den Eindruck, er hat sich auch von mir persönlich zurückgezogen. Ich kann nichts mehr zu ihm sagen, meine Gebete und Lieder sind leer und ausdruckslos. Aber ich höre auch nichts von ihm. Verstehen Sie, was ich meine?«

Dieses Anliegen hat mich schon ziemlich ratlos gemacht. Ich versuche, die Vorkommnisse in der Kirche von der persönlichen Gottesbeziehung zu unterscheiden, das aber will nicht helfen. Es ist alles wie vernagelt. Ich merke, dass die Frau sich schon selbst unglaublich viele Gedanken gemacht hat. Ich bin ja nicht der erste Gesprächspartner, dem sie ihre Situation schildert. Und dennoch spüre ich in ihrem Erzählen – bei aller Erschöpfung – keine vollständige Hoffnungslosigkeit. Insgeheim hat sie natürlich die Hoffnung, ihre frühere Gottesbeziehung wieder zu finden. Aber was heißt wieder finden – vielleicht kann sie diese frühere Beziehung gar nicht wieder finden, weil diese Beziehung eine andere geworden war. Das Verhältnis zu Gott ist durch die schlimmen Erfahrungen im persönlichen Leben und im öffentlichen Bereich der Kirche verändert worden – es muss neu buchstabiert werden. Nur – wie kann das gehen? Alle Antworten und Ermutigungen der anderen gingen bisher ins Leere. Vielleicht deshalb, so vermute ich, weil das, was andere sagen, erst mit der eigenen Lebenssituation zusammengebracht werden muss. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen gibt es ja dieselbe Beobachtung: Was Eltern, Lehrer und andere »Ältere« an Lebenserfahrung und Glaubensweisheiten an die neue Generation weitergeben, ist zunächst mal ohne Bedeutung – wenn es nicht eine eigene Erfahrung gibt, die mir das Gehörte als glaubwürdig bestätigt und einen existenziellen Bezug dazu herstellt, was ich persönlich durchlebt und durchlitten habe.
Ich überlege, ob es meiner Gesprächspartnerin in ihrer Situation nicht ähnlich geht. Sie ist keine Jugendliche mehr, eigentlich ist sie ja schon reichlich mit Lebenserfahrung ausgestattet. Aber verschiedene schwere Erlebnisse haben sie so durcheinander gebracht, dass sie mit ihrem Glauben scheinbar wieder ganz von vorne anfangen muss, ihn neu buchstabieren: durch Erzählen, durch Anschauen des Schmerzlichen, der erlittenen Wunden, dadurch, dass sie mich als Zeugen ihrer Wunden ins Vertrauen zieht, um nicht alleine damit zu sein, und möglicherweise beim Zeigen und Erzählen etwas Begreifliches zu finden hofft, etwas, an dem sie sich in ihrer Suche festhalten kann.

 

Die Glaubensnot des »ungläubigen Thomas« – eine Glaubensspur für heute

Ich entdecke im sehnsuchtsvollen Suchen und Zweifeln dieser Frau den Apostel Thomas wieder, wie ihn das Johannes-Evangelium in der Auferstehungsgeschichte schildert. Thomas war – weiß Gott – kein Ungläubiger, aber die schrecklichen Geschehnisse um seinen Freund Jesus, auf den er sein ganzes Vertrauen gesetzt hatte, hatten ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Und was ihm die anderen da erzählten von wegen Auferstehung, das konnte er mit dem Erlebten aber auch schon gar nicht in Verbindung bringen:

»Thomas, genannt Didymus – Zwilling –, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.« (Joh 20,24f)
Ich höre dabei die Frau aus meinem Gespräch in den Gedanken des Thomas reden: ‚Was mir die anderen erzählen, bringe ich nicht mit den Wunden zusammen, die ich erlebt und erfahren habe. Wenn all der Glaube und die guten Worte etwas mit meinem Leben zu tun haben sollen, dann müssen sie mit den Verwundungen zu tun haben, die so schmerzlich sind!‘ Die Wunden Jesu sind ja auch die Wunden des Thomas: seine enttäuschte Hoffnung, die Verletzung, von den Gegnern Jesu ebenfalls geschmäht zu werden, die Angst, ein ähnliches Schicksal zu erleiden! Den Finger in die Wunden zu legen, die Wunden nicht zu vertuschen, sondern sie in den Blick zu nehmen, offen zu legen, mitsamt den Wunden ernst genommen zu werden – das ist Thomas‘ Wunsch! Nur dann kann etwas Zerbrochenes heilen, nur dann kann die Erfahrung der verschlossenen Türen aufgebrochen werden. Der Evangelist Johannes erzählt im Folgenden genau davon, und das wirft den Thomas nahezu um:

»Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder versammelt, und Thomas war dabei. Die Türen waren verschlossen. Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! Dann sagte er zu Thomas: Streck‘ deinen Finger aus – hier sind meine Hände! Streck‘ deine Hand aus und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete ihm: Mein Herr und mein Gott!« (Joh 20,26-28)

Ich mag diese österliche Erzählung sehr, weil dieser Thomas ebenso suchend und zweifelnd wie auch überwältigt von der Begegnung mit dem Auferstandenen dargestellt wird. Der »ungläubige Thomas« wurde er aufgrund dieser Verse immer genannt. Das Prädikat »ungläubig« wird ihm ganz und gar nicht gerecht. Freilich blieb er länger als die anderen Jünger unsicher und zögernd. Aber letztlich hat er von dem Angebot, seinen Finger in die Wunden zu legen, gar keinen Gebrauch mehr gemacht. Etwas anderes muss es gewesen sein: Nicht dass er be-greifen konnte, sondern dass er sich im Augenblick der Begegnung an all das er-innert, was seine Beziehung zu Jesus ausgemacht hatte. Was schon vorher innen in Thomas schlummerte, war plötzlich neu erwacht und wurde zum Inhalt seines Auferstehungsglaubens.
Diese Episode wird im katholischen Gottesdienst alljährlich am Sonntag nach Ostern vorgelesen. Dieser Sonntag heißt seit alters her »Weißer Sonntag«. Früher war das der klassische Termin für die Erstkommunion. Der weiße Sonntag hat seinen Namen von den weißen Kleidern, die die Täuflinge der Osternacht acht Tage lang getragen und dann wieder gegen ihre Alltagskleidung eingetauscht haben. Der Feiertagsglaube, den die Täuflinge von den anderen in der Gemeinde, vom Lehrer, vom Paten, von anderen Vorbildern übernommen hatten, sollte mit diesem Tag zu einem eigenen, alltagstauglichen Glauben werden. Aus dem Glauben des »Taufkindes« sollte ein erwachsener Glaube werden. Was Thomas nur von seinen Freunden gehört hatte, sollte jetzt zu seinem ganz persönlichen Bekenntnis werden: »Mein Herr und mein Gott!«
Ich überlege mir: Vielleicht ist das bei jedem Menschen so, dass aus dem Kinderglauben, dem Glauben des Annehmens und Übernehmens von den anderen, nach einiger Zeit so etwas wie ein »erwachsener Glaube« werden muss! Vielleicht ist es ja so, dass die Thomasgeschichte, geschrieben an Christen etwa 100 Jahre nach Christus, eine Ermunterung für all jene sein sollte, denen es ging wie der Frau aus dem Buchladen? 100 nach Christus – da waren inzwischen viele Dinge geschehen, auch schreckliche. Die ersten Christen waren schon verfolgt, manche sogar getötet worden. Einige waren möglicherweise auch schon wieder von ihrem neuen Glauben zurückgewichen, weil sie ihn vielleicht zu anstrengend, zu wenig alltagstauglich empfunden hatten. Was ist übrig geblieben von der ersten Faszination von Jesus, die die Menschen angesteckt hatte? Er, der Wundertäter, er, der so viele geheilt und ins Leben zurückgerufen hatte, er, der so wohltuende Worte gesprochen hatte – er hat viele begeistert. Aber oft hat er auch darauf hingewiesen: ‚Sagt niemandem etwas davon weiter, bis ihr nicht alles erlebt habt, auch den Schmerz, das Leid, den Tod. Erst dann – mit Blick auf die Wunder und die Wunden – erst dann entscheidet nochmal, ob ihr wirklich bei mir bleiben wollt!‘
Jetzt war es bei Thomas soweit: Wunder und die Wunden – und dann wieder ein Wunder. Be-greifen muss er in diesem Moment gar nicht mehr, so sehr er es sich gewünscht hatte. Manchmal versteht man sich ohne Worte, ohne Anfassen, einfach nur weil jeder weiß, dass der andere da ist. Thomas wusste in diesem Moment: Der mit den Wunden, das ist auch der mit den Wundern. Und die Dame aus dem Buchladen? Ob auch sie sich wünscht, die erlebten Wunden mit den Wundern Jesu zusammenzubringen? Einem auferstandenen Jesus, der nichts mehr mit den Niederungen und Abgründen des Lebens zu tun hätte, könnte sie – wie auch Thomas – nicht trauen.

 

Die eigenen Wunden zeigen – eine Lebenskunst

Es gibt ein Werk aus der zeitgenössischen Kunst, das mir in diesem Zusammenhang in den Sinn kommt: eine Arbeit des Aktionskünstlers Josef Beuys (1921-1986) aus den 70er Jahren. Sie trägt den Titel: »Zeige deine Wunde« und behandelt das Thema Verletzungen und Tod in eindringlicher Weise. Schon der Titel, aber noch mehr die Elemente dieses Kunstwerkes stoßen den Betrachtenden vor den Kopf. Im Mittelpunkt stehen zwei Leichenbahren nebeneinander, alte Inventarstücke aus der Pathologie. Über den Kopfenden sind trübe Lampen angebracht. Unter den Bahren befinden sich zwei geöffnete, mit Fett gefüllte Blechkästen, darauf je ein Thermometer und Reagenzglas mit einem skelettierten Amselschädel. An der Wand lehnen zwei Schepser, Geräte aus dem Voralpenland, die ursprünglich dazu dienten, die Rinde von Bäumen zu entfernen. Gerahmt hängen zwei Exemplare einer Zeitung in der Versandbanderole, adressiert an Beuys. Die italienische Zeitung heißt La Lotta Continua, zu deutsch: Der ständige Kampf.

An der Stirnwand befinden sich schließlich zwei Schultafeln, auf die mit Kreide »Zeige deine Wunde« geschrieben steht. Fast alles ist doppelt zu sehen, als ob gesagt werden soll: Wunden haben immer zwei Seiten. Sie sprechen von Leben und von Tod, vom Leid des Einzelnen und von der Gesellschaft, von Gegenwart und Vergangenheit, von Geschichte ebenso wie von der Jetztzeit. Die Installation, die heute im Lenbachhaus in München beheimatet ist, war ursprünglich in einer Münchener Fußgängerunterführung zu sehen. Über der dunklen Installation befanden sich die teuren Boutiquen der Maximilianstraße, in denen damals wie heute die betuchten Leute einkaufen. Beuys wollte damit manche Gedankenlosigkeit des Alltags unterbrechen. Nur eine Wunde, die gezeigt und gesehen wird, so sagte er damals, kann auch geheilt werden. Er erinnerte sich mit diesem Werk an seine eigenen Kriegsverletzungen, die er nur überlebt hatte, weil er gefunden und verarztet worden ist. So sei es auch heute mit leiblichen und gesellschaftlichen Wunden: Menschen sind immer verletzliche Wesen, die der Heilung bedürfen. Und diese Heilung braucht immer den Mut, die Wunden offen zu legen und zu sehen. Dann kann sich von innen heraus etwas verändern. Das Johannesevangelium sagt: Es ist die Beziehung, die Liebe, die die Wunden des Lebens überwinden kann. Thomas hat diese Beziehung neu erfahren, die alte Liebe neu gespürt.

 
Missionarische Pastoral heute:
Sehnsucht wahrnehmen – heilsam begegnen

Die Geschichte Jesu geht weiter, auch heute. Immer noch gibt es Wunden, die geheilt werden wollen. Immer wieder gibt es Momente, da deutlich wird: wo diese Wunden ehrlich angeschaut werden, können sie auch heute heilen. Nicht indem ein deus ex machina von oben eingreift, sondern indem derjenige von innen her verwandelt wird, der des Wunders und der Hilfe bedarf. Thomas erlebt dieses Wunder: nicht durch das ersehnte Berühren der Wunden, sondern durch das neue Aufflammen der Liebe zu seinem Herrn und Freund Jesus: Mein Herr und mein Gott! Und die Frau aus der Buchhandlung? Ich weiß nicht, was sie genau aus unserem langen Gespräch mit nach Hause genommen hat. Aber ich erinnere mich noch an das, was sie zum Schluss sagte:
»Was mir am meisten geholfen hat, ist, dass Sie mich ernst genommen haben mit meinen Zweifeln und in meiner Glaubensnot. Dass da nicht wieder ein ‚Da kann ich Ihnen auch nicht helfen´ kam. Dass Sie nicht versucht haben, mir meine Zweifel auszureden, sondern sie mit mir ausgehalten haben. Ich fühle mich nun gar nicht mehr so amputiert. Ich spüre grade: Du darfst sein!«

 

Für mich erschließt sich aus dieser Episode einer im Glauben ringenden Zeitgenossin, was es heißen könnte, heute »missionarisch« unterwegs zu sein: Es geht darum, wie Jesus damals Mut zu haben, Wunden nicht zu vertuschen, sondern sie ehrlich anzuschauen, ehrlich und sachgerecht mit ihnen umzugehen und ihnen so die Möglichkeit zur Heilung von innen her zu geben. Es gibt wohl kein Leben, das nicht mit Verletzungen und Kränkungen zu tun hat. Nicht selten haben diese Wunden auch mit religiösen Empfindungen zu tun. Die Zeit des Richtens und Be- oder gar Verurteilens muss vorbei sein. Es geht darum, Menschen zu ermutigen und ihnen glaubhaft zu versichern:

Du darfst sein – samt deinen Wunden und Brüchen!
Das ist die Botschaft des Evangeliums.
Solch eine Zusage kann wahrlich Wunder wirken.

 

 

Zum Autor:

Christoph Seidl ist Diözesanbeauftragter für Krankenhaus und Hospizseelsorge in Regensburg. Nach seiner Kaplanzeit arbeitete er in der Priesterausbildung mit und war Studentenpfarrer in der Katholischen Hochschulgemeinde Regensburg. Neben seiner Seelsorge- und Referententätigkeit ist der promovierte Theologe durch seine zahlreichen Rundfunkbeiträge bekannt geworden.