HomeOnline-AusgabenBuG180 Hoffmann: Luther als Kritiker v. Religion u. Kapitalismus

Luther als Kritiker  
Ausgabe: 180/2017

Luther als Kritiker

 von Religion und Kapitalismus

                         von Martin Hoffmann

Luther als Ökonom?

Martin Luther wird selten mit Wirtschaftsfragen in Verbindung gebracht. Zu stark hat das Bild eines »unpolitischen Luthers« die Forschungsgeschichte, besonders des Luthertums, geprägt. Ausgerechnet aber Karl Marx bezeichnete ihn als den »ältesten deutschen Nationalökonomen«, der in ihm einen Gewährsmann seiner eigenen Kapitalismuskritik sah. Er hebt hervor, dass Luther bereits am Ursprung des Kapitalismus die Negativfolgen seiner Entwicklung erkannt und kritisiert habe; dass er schon frühzeitig das Prinzip der Kapitalakkumulation erfasste, den »Mehrwert« und seine Automatismen entdeckte sowie zu der Erkenntnis kam, dass das Kapital Arbeitskraft kauft, um sich als Kapital zu reproduzieren.
Nun lässt sich bei gezielter Lektüre von Luthers Schriften zweierlei deutlich zeigen: Zum einen, dass Luther tatsächlich im Frühkapitalismus seiner Zeit Grundprinzipien dieser Wirtschaftsform durchschaut hat – Prinzipien, die sich in einer verhängnisvollen Entwicklung hin zum heutigen neoliberalen Kapitalismus ausgewirkt haben. Zum andern, noch entscheidender, dass Luthers Kritik an der ökonomischen Logik und Praxis mit seiner Kritik an der Logik der Religion zusammenhängt – oder als These formuliert: Luther wird zum Kritiker des Frühkapitalismus, weil er ein Kritiker von Religion ist.

Luthers wirtschaftskritische Stellungnahmen

Luthers kritische Einwendungen gegenüber wirtschaftlichen Entwicklungen und Phänomenen im Übergang vom Feudalismus zu einem frühkapitalistischen System ziehen sich wie ein roter Faden durch seine politischen und sozialen Stellungnahmen.
Bereits in seiner Reformschrift von 1520 »An den Christlichen Adel Deutscher Nation von des Christlichen Standes Besserung« kritisiert er neben dem Handel mit Luxusgütern vor allem den Zinskauf als neues Instrument der Ausbeutung und der Verarmung.
Die beiden »Sermone zum Wucher«, der sogenannte Kleine Sermon von 1519 und der Große Sermon von 1520, setzen sich mit Geiz, Zins und Wucher auseinander und prangern das öffentliche Wirtschaften auf dem Markt und im Handel an. Luther reagiert in diesen Sermonen auf die sich zuspitzende Lage der Bauern. Eine Häufung von Missernten, zuletzt in den Jahren von 1515 bis 1519, hatte die Bauern zu Kreditaufnahmen gezwungen, die oft in einen Verlust ihres Besitzes mündeten. Das mittelalterliche Zinsverbot im christlichen Raum war ins Wanken geraten. Das kanonische Kirchenrecht hatte das Zinsnehmen als Wucher verboten. Nun stellte sich die katholische Theologie, insbesondere Luthers Kontrahent Dr. Eck und die ihm folgende Tübinger Schule, auf die neue Situation ein und erklärte einen Zins bis fünf Prozent für akzeptabel. Luther wendet sich in seinen Sermonen grundsätzlich gegen den Wucher sowohl bei Warengeschäften (Handelskapital) als auch beim Leihen (Geldkapital). Besonderes Augenmerk widmet er dem Zinskauf, einer Art Hypothekengeschäft. Ein Schuldner setzte dabei ein Grundstück als Pfand für einen Kredit ein oder trat den Nießbrauch des Grundstücks ab, konnte dieses aber durch Tilgung der Schuld wieder zurückerwerben (62f.). Luther erkennt darin blanken Wucher, weil »das arme Volk ausgesaugt und unterdrückt« wird.
Dabei macht Luther das Gebot der Nächstenhilfe aus der Bergpredigt zur Leitperspektive für wirtschaftliches Handeln. Ausdrücklich orientiert er an
Mt 5,40-42 und stellt drei Regeln auf: Bedürftigen ist umsonst zu geben, Leihen soll ohne Zins erfolgen und was mit Gewalt abgedrungen wird, soll man in Liebe fahren lassen. Seine Begründung ist theologisch: Gott ist ein Gott der Armen und Bedürftigen. Wahrer Gottesdienst besteht darum im Geben und Leihen (ohne Zins).
1524 greift Luther das Wirtschaftsthema erneut auf und erweitert in seiner Schrift »Von Kaufhandlung und Wucher« den Großen Sermon vom Wucher um einen ersten Teil, der die Geschäftspraktiken des Handels analysiert.
Die zentralen Kritikpunkte sind:

  • Preisbildung durch Kaufmannsgilden und Zünfte. Waren so teuer wie möglich zu verkaufen, wird zum leitenden Geschäftsprinzip. Dies verstößt für Luther gegen die christliche Liebe und das natürliche Gesetz, nämlich gegen Recht und Billigkeit. Der Warenpreis braucht also sowohl eine rechtliche wie eine ethische Rechtfertigung.
  • Bürgschaften ermöglichen zwar einen flüssigeren Geldverkehr, bewirken aber ein Geflecht von Abhängigkeiten. Luther sieht in den Bürgschaften einen Verstoß gegen das 1. Gebot, weil sie ihr Vertrauen auf Unvorhersehbares und Menschliches setzen.
  • Das geschäftliche Borgen geschieht ausschließlich zum eigenen Nutzen, wie aus dem entsprechenden Zinsaufschlag abzulesen ist. Leihen, um mehr oder Besseres zurückzubekommen ist nach traditioneller Lehre »ein öffentlicher und verdammter Wucher«.
  • Zahlreiche Missbräuche und Betrug: Kreditverkäufe auf Zeit anstelle des Barverkaufs, spekulative Warentermingeschäfte, monopolistischer Warenverkauf, Dumpingverkäufe, um finanziell schwächeren Konkurrenten zu schaden, Ausnutzung von Notlagen, kartellartige Preisabsprachen, Unternehmensbeteiligung mit festem Zins und Manipulationen an Ware, Maßen und Gewichten.
  • Schließlich sticht die Monopolbildung als zentrales Übel hervor. Sie geschieht in der Entstehung der großen Handelsgesellschaften, die – wie etwa das Handelshaus Fugger – den beginnenden Welthandel und das Bankenwesen in eine Hand nehmen. Diese Gesellschaften treiben das kleine und mittelständische Handels- und Manufakturwesen in den Ruin. Luther kann sogar sagen: Sie sind »eitel rechte Monopolia. Sie drücken und verderben alle geringen Kaufleute, gleich wie der Hecht die kleinen Fische im Wasser« (120).

Luther durchschaut bereits in dieser Schrift den strukturellen Zusammenhang der verschiedenen Kapitalformen: des kommerziellen, finanziellen und produktiven Kapitals und damit den Übergang von einer feudalen Naturalwirtschaft in die neue Ära einer kapitalistischen Geldwirtschaft. Ihm ist klar, dass dies auch einen Umbruch in der gesellschaftlichen Entwicklung darstellt. Noch deutlicher wird es, wenn er neben dem Gewissen und der christlichen Liebe ebenso auf Recht und Billigkeit als Prinzipien des natürlichen Gesetzes verweist, denen der Handel zu unterwerfen sei. Er fürchtet die Entwicklung einer ungebremsten und unregulierten Geldwirtschaft, die die Gesellschaft zu zerreißen droht. Daher fordert er die staatliche Obrigkeit auf, gegen Preismanipulation und Ausbeutung aktiv zu werden: Staatliche Regulierungen z.B. die Festlegung eines angemessenen Preisrahmens (Billigkeit) sind notwendig, um den Handel am Gemeinwohl auszurichten. Ein Kriterium wie die Sozialpflichtigkeit des Eigentums wird hier von Luther vorweggenommen.
In seinem Großen Katechismus von 1529 geht Luther noch einen Schritt weiter: Dort bezieht er das ökonomische Problem zunächst auf das siebte Gebot »Du sollst nicht stehlen«. Die erwähnten Handelspraktiken gelten ihm als konkrete Beispiele des Stehlens:
»Denn es soll (wie jetzt gesagt) nicht allein gestohlen heißen, daß man Kasten und Taschen ausräumet, sondern das soll […] überall gelten, wo man hantieret, Geld um Ware oder Arbeit nimmt und gibt. […] So gehet es auch mit voller Macht und Gewalt weiter auf dem Markt und in den allgemeinen Händeln, da einer den anderen öffentlich mit falscher Ware, Maß, Gewicht, Münze betrügt […].«
Sodann verlagert er die Thematik hinein ins 1. Gebot »Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.« Ökonomie wird damit unter dem Stichwort »Mammon« zu einem Problem im Bereich der Rede von Gott. Es wandelt sich von einem ethischen zu einem theologischen Problem. Luther setzt der ideologischen Rechtfertigung des Kapitals Widerstand entgegen, indem er es der Kritik des göttlichen Gebots unterzieht. Dieses wirtschaftliche Verhalten ist grobe Abgötterei, da die meisten Menschen Gott verachten und dem Mammon anhängen und ihre eigene Gerechtigkeit anbeten.
»Es ist mancher, der meinet, er habe Gott und alles genug, wenn er Geld und Gut hat; er verläßt und brüstet sich darauf so steif und sicher, daß er auf niemand etwas gibt. Siehe: dieser hat auch einen Gott, der heißet Mammon, das ist Geld und Gut, darauf er all sein Herz setzet, welches auch der allergewöhnlichste Abgott auf Erden ist.«

 

 

Die Grundeinstellung kapitalistischer Ausbeutung ist hier klar erkannt und beim Namen genannt: Die absolute Ich-Bezogenheit und der Eigennutz. Das kennzeichnet den Menschen, der auf sich selbst vertraut und sich selbst zum Gott macht. Denn worauf ein Mensch traut und sich verlässt, das ist sein Gott.
Schließlich greift Luther 1539 noch einmal das Thema der Wirtschaft ausführlich auf: in seiner Vermahnung »An die Pfarrherren, wider den Wucher zu predigen«. Das Neue in dieser Schrift ist nicht die Analyse, sondern die Inanspruchnahme der Prediger und ihrer Gemeinden, sich zu der wirtschaftlichen Entwicklung und ihrer Praktiken zu verhalten.

  • Luther verlangt die Exkommunikation aus ökonomischen Gründen. Pfarrer sollen keine Absolution erteilen und kein Sakrament reichen, wenn ein Wucherer das Wort Gottes ausschlägt und sich von der Kirche löst, indem er notorisch Zinsen nimmt.
  • Luther fordert, dass die Predigt sich auch klar gegen die Herrschenden richten muss. Er erinnert daran, dass die Predigt aller Propheten sich am meisten gegen die hohen Personen gewandt hat und auch Christus im Evangelium eine niedrige, geringe Person war. Trotzdem richtete er sich an die Hohenpriester.
  • Schließlich entwickelt Luther den Gedanken, dass die christliche Gemeinde selbst als eigenes ökonomisches Subjekt fungieren solle. Die Gemeinde ist für ihn das Stück Gesellschaft, in dem ein freies evangelisches Leihen stattfindet und Geld oder Ware in den Handel gehen. D.h. nichts anderes, als dass Luther die Gemeinde als antikapitalistisches, eigenes gesellschaftliches Subjekt denkt, das dem Systemzwang widersteht.
    In alldem orientiert sich Luther - den Tod Christi vor Augen - an den Armen. Sie werden für ihn zur Norm, die die christliche Gemeinde beachten muss gegen den heraufziehenden Kapitalismus.
Religionskritik als Ökonomiekritik

Was befähigte Luther nun, bereits in diesem Frühstadium des Kapitalismus seine Grundprinzipien und auch die Folgen so scharf ins Auge zu fassen?
Luthers reformatorische Entdeckungen begründen offensichtlich eine grundlegend neue Grammatik der Theologie, nach der das Leben gelesen und verstanden werden kann. Diese Grammatik führte zuerst zu einem Bruch mit der religiösen Logik, der er im Machtbereich der römisch-katholischen Kirche begegnet war. Gleichzeitig beinhaltet sie aber auch den Bruch mit der ökonomischen Logik des Frühkapitalismus, die erstaunliche Analogien zur religiösen Logik aufweist. Luther wird zum Kritiker des Frühkapitalismus, weil er ein Kritiker von Religion ist – jedenfalls in ihrer institutionalisierten Gestalt.
Hinter dieser These stehen zwei Beobachtungen: Zum einen die strukturellen und logischen Zusammenhänge zwischen Ökonomie und Religion, zum andern Luthers Re-formulierung des Evangeliums.

Die Äquivalenzen von Ökonomie und Religion

Bereits in der Antike lassen sich Äquivalenzen zwischen Religion und Ökonomie beobachten. Der gemeinsame Nenner liegt in der Kommunikation oder dem Tausch von Botschaften. Religiöse Botschaften vermitteln zwischen einer transzendenten und einer immanenten Wirklichkeit. Die archaische Magie entwickelt sich hin zu einer immer mehr institutionalisierten Religion, die die Tauschgesetze in der Kommunikation mit einer göttlichen Instanz festlegt. Die Vermittlung der Botschaft wird monopolisiert. Durch Magie, Rituale, Gebete und Versenkung bekommt der Gläubige Anteil an der Transzendenz. Bleibt aber die Antwort aus und steigt damit die Furcht vor einer Antwort, so beginnt das abwägende Feilschen um göttliche Rechte und Pflichten. Als Tauschwert setzt der Mensch erst sich selbst, dann ein Tier, schließlich Geld als Opfer ein. In der Kommunikation droht jeweils der Entzug von Heil und Leben. Das verleiht den Mittlern der Wahrheit ihre dominante Stellung in der Kommunikation. Religion wird immer wieder zur Herrschaft instrumentalisiert, bedarf aber umgekehrt auch der Herrschaft um sich durchzusetzen. Eben diese Logik hatte Luther vor Augen, als er das Machtsystem der katholischen Kirche angriff.
Zugleich aber ist es die grundlegende ökonomische Logik. Auch hier geht es um Tauschverhältnisse, um Werturteile, monopolisierte Stellungen, das Feilschen um Gewinn und Verlust, das Erlangen von Profit und eine feste Interaktionsgemeinschaft, den Markt mit seinen ihm eigenen Regeln. Mit Entstehung des Geldhandels und der Münzprägung hatte sich die Religiosität zunehmend von den Göttern abgewandt. Eine entscheidende Rolle spielen dabei Tempel und Priester. Der Ersatz von Opfertieren durch Geldmaterial, vor allem Gold und Silber, verleiht diesem religiöse Bedeutung. Steuerabgaben an den Tempel machen die Gottesdiener zu ersten Ökonomen. Zinsabgaben an die Priesterkaste treten an die Stelle des Priesteranteils vom Opferfleisch.
Das Geld nimmt göttliche Unsterblichkeit an und gewinnt dabei einen neuen Charakter über den eines reinen Tauschmittels hinaus. Es liefert ethische Motivation, nämlich das Streben nach Gewinn, und Handlungsorientierung, nämlich das ökonomische Handeln. Die Ökonomie gewinnt ideologische Gestalt, indem sie Heil und Erlösung verspricht. Der Mammon installiert diese Ideologie. Sie übernimmt die Erklärungsmacht von Religion und setzt eigene Dogmen: das Dogma des alles bestimmenden Marktes, das Dogma des freien Spiels der Marktkräfte, das Dogma der Trennung zwischen Ethik und wissenschaftlicher Ökonomie, das Dogma des vernünftig entscheidenden homo oeconomicus und das des unbegrenzten Wachstums. Der Glaube an die heilende und glückbringende Kraft des Marktes ist die neue Religion, Mammon der allmächtige und unhinterfragbare Gott. Die religiösen Züge des Kapitalismus sind unverkennbar. Daraus lässt sich aber auch die Schlussfolgerung ziehen:
Wer mit der Grundlogik von Religion bricht, der bricht auch mit dem Kapitalismus. Genau dies tut Luther.

 

Luthers Bruch mit der ökonomischen Logik der Religion

Frühe reformatorische Erkenntnisse Luthers, speziell die der Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben, ließen ihn grundsätzlich mit der ökonomischen Logik von Religion brechen. Diese Logik zerbricht an drei Grunderkenntnissen der reformatorischen Theologie:

- Gerechtigkeit nach Maß oder nach Gnade?

Die Rechtfertigung allein aus Gnade widerspricht der Quantifizierung von Gnaden. Jede Aufrechnung von Schuld und Sühne und alle menschlichen Ersatzleistungen werden dadurch dekonstruiert.
Darum waren bereits Luthers 95 Thesen ein Stoß ins Herz des römisch-katholischen Machtsystems – nicht so sehr, weil hier erste, noch recht begrenzte Papstkritik geübt wird, sondern weil Luther mit seiner Kritik am Ablasswesen die quantifizierende Vorstellung und damit die verbindende Logik zwischen Kirche und Ökonomie sprengt.

- Der Mensch – solipsistisches Ego oder Wesen in Beziehung?


Voraussetzung der ökonomischen Logik der Moderne ist seit Descartes die Grundfigur der Subjektivität, die Spaltung von Ich und Du. Wenn nach Luther aber Subjektwerdung im Glauben geschieht und als Sein in Christus und im Nächsten, also relational zu verstehen ist, dann kann auch das soziale, politische und wirtschaftliche Handeln nicht nur nach dem Konkurrenzmodell und der Wettbewerbsvorstellung gestaltet werden. Die in der Moderne propagierte Autonomie des Subjekts schließt – reformatorisch gesehen – Freiheit und Verantwortung ein.
Luther bestimmt das Subjektsein also durch die grundlegenden Dimensionen des Gottesverhältnisses und des Weltverhältnisses, ausgedrückt durch Glaube und Liebe. Es darf freilich nicht auf den personalen Bereich beschränkt werden; denn Luther entwickelt seine Ethik im Rahmen der zeitgenössischen Drei-Stände-Lehre und beschreibt Gottes Wirken so in den Institutionen der Kirche, des Staates und der Wirtschaft. Darum gewinnt ein Kriterium wie Nächstenliebe als Solidarität auch strukturelle Relevanz, d.h. eine lebensdienliche Wirtschaft erfordert solidarische Strukturen.

- Ökonomische Rationalität oder Ratio crucis?

Der Rationalitätsanspruch der modernen Ökonomie muss sich in seinem zu Grunde liegenden Begriff von Vernunft von Luthers Kreuzestheologie und der ihr innewohnenden Logik hinterfragen lassen.
»Ökonomie als Wissenschaft wird gewöhnlich als Lehre vom rationalen Handeln definiert.« Dabei gilt als rationales Handeln: »Mit knappen Mitteln den größtmöglichen Nutzen zu erzielen oder umgekehrt einen definierten Zweck mit geringstmöglichem Mitteleinsatz zu erreichen«, was wiederum identisch mit effektivem Ressourceneinsatz ist. Die ratio bezeichnet letztlich nicht mehr als die berechnende Vernunft.
Als homo oeconomicus wird der rational Handelnde zum Leitbild des Wirtschaftens. Wesentlich ist dabei die Veränderung im handelnden Subjekt selbst: es rechnet und kalkuliert nicht nur, sondern wird selbst in gewissem Sinn zur Rechenmaschine, d.h. zum rechnend denkenden Menschen. Seinen Charakter bringt Max Weber auf den Begriff der »Kaufmannsseele« und zeichnet ihren Weg historisch als »Geist des Kapitalismus« nach.
Diese Form der Rationalität kreiert das Denkmodell einer Ökonomie des »Mehr-ist-besser«. Die Gleichsetzung von Rationalität und Berechnung beraubt jedoch die menschliche Vernunft wesentlicher Züge.
Luthers Auffassung von Vernunft folgt dagegen der Logik seiner Kreuzestheologie. Sie entlarvt die menschliche Ratio als Selbstdurchsetzung. Ihr gottloser Selbstbezug verkehrt die Grunddimensionen des Lebens: den Bezug zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen und zu Gott. Statt sie lebensdienlich zu gestalten, verleibt der Mensch sich alles ein: Vernunft, Liebe, Gesetz und Gott. Er macht sie zu Mitteln seiner Selbst-Formung und Selbstdurchsetzung. Gleichzeitig lebt er aber in dem Bewusstsein, gerade darin mit sich eins zu sein. Diese Annahme eines mit sich identischen und von der Vernunft gesteuerten Menschen, der so seine Selbst-Formung verwirklicht, wird für Luther durch das Kreuz als Illusion entlarvt. Die Kreuzestheologie bricht mit der alltäglichen Logik, wenn sie in der Menschlichkeit Jesu das Göttliche, in der Schwachheit die Stärke, in der Ohnmacht die Allmacht und in der Torheit dieses Vorgangs die letzte Weisheit begreift. Das Paradoxe und Provokante liegt darin, im Verachteten und Gefolterten wahre Menschlichkeit zu entdecken, die Gott entspricht. Das Kreuz als Zugangsperspektive zur Wirklichkeit – das bedeutet letztlich: Humanität vom Rand des herrschenden Konsenses her erschließen. Jesu Botschaft setzt gerade an den Rändern der Gesellschaft an, entdeckt und verleiht Menschenwürde den Armen, denen, die gebrochenen Herzens sind, den Gefangenen, den Blinden, den Unterdrückten (vgl. Lk 4,16-21).
Darin liegt die Kritik der Ökonomie begründet. Diese folgt der inneren Sachlogik der ökonomischen Rationalität, trennt diese aber von der Sinnfrage und der Legitimationsfrage. Stattdessen vertraut sie der ‚unsichtbaren Hand des Marktes‘, die alles steuert, und die automatisch die Eigengesetzlichkeit der ökonomischen Rationalität ersetzt nach dem Motto »vernünftig ist, was sich rentiert« als normative Leitideen der Ökonomie wie die der Lebensdienlichkeit. Diese entscheidet sich – wenn man der Logik der Kreuzestheo-logie folgt – nicht am Gewinn der shareholder, sondern am »Marktrand«, also daran, wieviel »gutes Leben«, soziale Gerechtigkeit und Solidarität mit den Marktverlierern ermöglicht wird.

 

Resümee

Luther als Kritiker des Frühkapitalismus zu verstehen, kann demnach nur bedeuten, mit Luther die Logik ökonomischen Handelns zu durchschauen und mit der biblischen Grammatik eines Lebens zu konfrontieren, die in seinen reformatorischen Wieder-Entdeckungen aufleuchtet. Als Grundperspektiven dieser Sicht können die Rechtfertigung allein aus Glauben, das Verständnis des Menschen als relationales Wesen und das Kreuz als Option für die Solidarität mit den Schwachen gelten.
In diesen Perspektiven erscheint die Sachlogik einer neoliberalen Marktwirtschaft mit ihren Prinzipien der Effizienz, der Konkurrenz und des totalen Marktes als lebensfeindliche und selbstzerstörerische Logik. Dagegen zielt das reformatorische Menschen- und Lebensbild auf eine lebensdienliche Wirtschaft, die die Freiheit der handelnden Subjekte mit der Verantwortung für ein gerechtes Zusammenleben und den Erhalt der Lebensgrundlagen zu verbinden weiß. Auch aus theologischer Sicht ist darum der Primat einer politischen Ethik und der politischen Institutionen zu fordern, die das wirtschaftliche System in eine lebensdienliche Gesamtordnung einfügt. Die klassischen Fragen, was sich eine Gesellschaft, auch eine Weltgesellschaft, unter gutem Leben vorstellt und wie gerechtes Zusammenleben unter Wahrung der Menschenwürde und dem Recht der Natur aussehen kann, sind dafür Schlüsselfragen.
Luthers frühneuzeitliche Alarmsignale gegen eine verhängnisvolle Entwicklung sollten als Eröffnung eines lebensnotwendigen Diskurses gerade auch heute gehört werden.

 

 

 

Zum Autor:

Dr. Martin Hoffmann war von 2000-2011 Rektor der Predigerseminare Bayreuth und Nürnberg, danach bis 2014 Theologieprofessor in Costa Rica. Auch als Pfarrer in Röthenbach/St. Wolfgang blieb er Gastdozent in Mittelamerika. Mit Juli 2017 kehrt Hoffmann wieder für weitere Jahre nach Costa Rica zurück.

 

Literaturhinweise:

Zuletzt wurde dieses Thema aufgegriffen vom Forschungsprojekt »Die Reformation radikalisieren«.
Vgl. Band 3 dieser fünfteiligen Reihe: Politik und Ökonomie der Befreiung, hg. v. Ulrich Duchrow, Martin Hoffmann, Berlin: LIT Verlag, 2015.
Der vorliegende Beitrag ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung von Martin Hoffmann, Luther und die Ökonomie – Religionskritik als Kapitalismuskritik, in ebd., 107-138.