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Dietrich Bonhoeffer - sein Mut macht noch heute Mut  
Ausgabe: 187/2020

 

Dietrich Bonhoeffer -
sein Mut macht noch heute Mut

Erinnerungen und Gedanken zu seinem 75. Todestag

Siegfried Kratzer

 

 

Am 9. April 2020 jährt sich zum 75. Mal die Ermordung des Theologen und Pfarrers Dietrich Bonhoeffer im Konzentrationslager Flossenbürg.
Bonhoeffer ist jemand, der zu den Licht- und Leuchtgestalten des NS-Widerstands gehört.
Zunehmende Bedeutung erfahren – neben den politischen und sozial-ethischen Gedanken – auch seine theologischen Überlegungen. Liest man von ihm die zahlreichen Predigten, Andachten, Briefe, Gedichte, theologischen Reflexionen und Tagebuchaufzeichnungen – seien es sowohl diejenigen, die er vor seiner Gefangennahme gemacht hat als auch diejenigen, die in seiner Haftzeit geschrieben wurden – dann spürt man die tiefe Verwurzelung seiner sozial-politischen und ethischen Überzeugung in seinem christlichen Glauben.
Allerdings konnte Bonhoeffer wegen seines frühen Todes viele seiner Gedanken und Ideen nicht mehr zu Ende führen. Mit wachem Verstand, Scharfsinn und Weitsicht begleitete er kritisch das gesellschaftliche, politische und kirchenpolitische Geschehen seiner Zeit. Die Konsequenzen, die er daraus zog, führten ihn in den aktiven Widerstand. Viele von Bonhoeffers politischen und theologischen Ansichten haben auch in unserer Zeit noch immer ihre Gültigkeit. Sie bleiben Herausforderung, mit wachem Blick sich den Gefährdungen und Gefahren entgegenzustellen, die jetzt, in einer anderen Zeit unter anderen Umständen drohen. Sie können und sollen aber auch Anstoß sein, den eigenen Glauben neu zu denken.

Beachten Sie bitte auch die früheren Nummern zu diesem Thema:

Der unbequeme Bonhoeffer

Schon vor seiner Haft war Dietrich Bonhoeffer für viele seiner Pfarrer-Kollegen und Vorgesetzten in der Kirchenbehörde unbequem. Seine Gedanken und sein Handeln wurden als zu „radikal“, zu umstürzlerisch und auch als „wider die Bibel“ empfunden. Bonhoeffers Opposition gegenüber den NS-gläubigen „Deutschen Christen“ führte zur Gründung des Pfarrernotbundes und schließlich zur Entstehung der „Bekennenden Kirche“. Zunehmend jedoch wuchsen bei Bonhoeffer auch die Zweifel an dem Verhalten vieler seiner damaligen Mitstreiter. Seinem Gewissen folgend musste er in weiten Teilen auch der Bekennenden Kirche gegenüber auf Distanz gehen. Um Bonhoeffer wurde es einsam. Von seiner ethischen und neutestamentlich begründeten Haltung her sah er keinen anderen Weg mehr als den, in Konspiration und Widerstand zu gehen.
Auch nach seinem Tod galt er noch für viele seiner Pfarrer- und Theologenkollegen als „Verräter“. Nach dem Krieg dauerte es eine geraume Zeit, bis Bonhoeffers Name allmählich öffentlich gemacht wurde. Zu Beginn der sechziger Jahre erhielten dann immer mehr Gemeindehäuser, Kirchen und Straßen seinen Namen. Über Länder und Konfessionsgrenzen hinweg erfuhr sein Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ einen großen Bekanntheitsgrad. Das Interesse an seinem Lebensweg und dem tragischen Ende nahm zu. Die zahlreich hinterlassenen Aufzeichnungen – obwohl in einer anderen Zeit geschrieben – verblüffen immer wieder durch ihre Aktualität.
Deshalb könnte das Gedenken an Dietrich Bonhoeffer nach 75 Jahren ihn wieder zum lebendigen Zeitgenossen werden lassen.

Verantwortung contra Pflichtbewusstsein

Dietrich Bonhoeffer wurde am 4. Februar 1906 geboren. Eine Begebenheit aus seiner Jugend skizziert bereits sein später breit entfaltetes ethisches Denken. Es handelt sich um mehr als eine lustige Geschichte:
Die Hausangestellte der Bonhoeffers, Maria Horn, hatte Dietrichs Lehrer geheiratet. Das junge Paar suchte intensiv aber vergeblich nach einer Wohnung. Auch die Nachbarin in Grunewald war trotz der Bitten der Bonhoeffers nicht bereit, ein oder zwei ihrer drei unbelegten Zimmer herzugeben. Daraufhin rief Dietrich mit verstellter Stimme bei ihr an und gab sich als Angestellter des Wohnungsamtes Grunewald aus. Im amtlichen Ton teilte er mit, dass auf Grund der erkennbar noch freien Räume im Hause Schöne schon am kommenden Tag neue Mieter einquartiert werden. Bereits eine halbe Stunde später bat Nachbarin Schöne die Bonhoeffers flehentlich, dass doch das junge Paar bei ihr einziehen möge, bevor ihr fremde Mieter zugewiesen werden würden.

Angesichts dieser Geschichte mag es verwundern, dass Bonhoeffer in seinem ethischen Denken und Handeln das „wahre Wort“ in den Mittelpunkt stellte. Er, der auch bei den Gestapo-Verhören wissentlich die Unwahrheit gesagt hat, um das Leben seiner Mitverschwörer und Angehörigen zu retten, notierte in seiner Tegeler Gefängniszelle unter der Überschrift „Wahrheit sagen“:

„Wie wird mein Wort wahr?
1) Indem ich erkenne, wer mich zum Sprechen veranlasst und was mich zum Sprechen berechtigt;
2) indem ich den Ort erkenne, an dem ich stehe;
3) indem ich den Gegenstand, über den ich etwas aussage, in diesen Zusammenhang stelle.“

Nicht das staatsbürgerliche Pflichtbewusstsein, auch nicht das blind-gehorsame Befolgen der zehn Gebote, sondern die Verantwortung für den Nächsten stehen für Bonhoeffer im Mittelpunkt seines ethischen Denkens und Handelns. – Damit stellt er sich in einen klaren Gegensatz zum kantschen und herkömmlichen protestantischen Pflichtbewusstsein:

„Das Handeln des Menschen soll sich nicht an allgemeinen Prinzipien orientieren, sondern sich an der konkreten Situation ausrichten. Wegen der „Situation der Maskerade des Bösen“, das sich als das Gute, Hilfreiche, Notwendige und Gerechte ausgibt, richten die traditionellen ethischen Begriffe wie Vernunft, Gewissen, Pflicht, Tugend nichts mehr aus. „Der Mann der Pflicht, wird schließlich auch dem Teufel gegenüber noch seine Pflicht erfüllen müssen.“
Wer hält der „Maskerade des Bösen“ stand? „Allein der, dem nicht seine Vernunft, sein Prinzip, sein Gewissen, … seine Tugend der letzte Maßstab ist, sondern der dies alles zu opfern bereit ist, wenn er im Glauben und in alleiniger Bindung an Gott zu gehorsamer und verantwortlicher Tat gerufen ist; der Verantwortliche, dessen Leben nichts sein will als eine Antwort auf Gottes Frage und Ruf: Wo sind diese Verantwortlichen?“
„Durch das eigene, verantwortliche Tun kann man schuldig werden. So ist solch ein Handeln nur im Glauben an die Vergebung Gottes möglich.“

 
 
 
Verantwortung erfordert Mut

Verantwortung zu übernehmen, erfordert aber immer auch Mut. Für Bonhoeffer galt dies besonders vor und in der Zeit des National–sozialismus.
Über den engen Freundes- und Familienkreis hinaus beschrieb er bereits Mitte 1932 in vielen Einzel- und Gruppengesprächen die möglichen drastischen Folgen eines kommenden Sieges der NSDAP.
Mut, seine Meinung auch dann weiter öffentlich zu bekunden, zeigte er am 1. Februar 1933 – also unmittelbar nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. – In einer zwanzigminütigen Rundfunkrede warnte er davor, dass ein politischer Führer, der seine Legitimation aus dem Volksgeist erfahren hat und damit zum Messias als „Erfüllung der letzten Hoffnung“ hochstilisiert und bejubelt wird, zum „Idol“ und zum „Verführer“ werden kann. Später präzisierte er diese Gedanken noch schärfer bei mehreren Veranstaltungen der Technischen Hochschule Berlin, zu denen er u.a. auch vom späteren Bundespräsidenten Theodor Heuß eingeladen worden war.

Im Juni desselben Jahres führte er als 26jähriger Universitätsdozent eine scharfe, offene Auseinandersetzung mit Vertretern der „Deutschen Christen“. Es ging um die Umformung der evangelischen Kirche im Geiste der nationalsozialistischen Revolution und damit um ihre „Gleichschaltung“ mit der NS-Regentschaft. Etwa 2000 Studenten verfolgten gespannt in der Berliner Universitätsaula diese Diskussion, bei der sich Bonhoeffer öffentlich gegen die NSDAP und die hitlertreuen „Deutschen Christen“ positionierte.
Die Übernahme des „Arierparagraphen“ durch seine Kirche, welcher die Zulassung von Menschen jüdischer und halbjüdischer Herkunft zum Pfarramt blockierte und auch deren Entfernung aus dem kirchlichen Dienst bedeutete, veranlasste Bonhoeffer zu der Schrift „Die Kirche vor der Judenfrage“ . Hier stellte er vier fordernde Thesen auf:

- Kirche darf dem Staat nichts vorschreiben.
- Das Handeln des Staates muss auf seine Rechtmäßigkeit geprüft werden.
- Dienst an den Opfern des Staates ist notwendige Pflicht.
- Es gilt, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden; vielmehr muss man dem Rad in die Speichen fallen.

Gerade beim letzten Punkt versagten ihm große Teile der Bekennenden Kirche und der bibeltreuen Christen die Gefolgschaft. Ein Christ – so deren Meinung – darf sich nicht gegen die von Gott gesetzte Obrigkeit auflehnen. Derjenige, der sich der Obrigkeit widersetzt, widerstrebt, gemäß Römer 13, Gottes Anordnung.
Bibel so eng zu verstehen, war Bonhoeffer fremd. Er wollte und musste angesichts der bereits bekannten und zunehmenden Gräueltaten des NS-Staates mithelfen, „dem Rad in die Speichen zu fallen.“

 

Dem Rad in die Speichen fallen

Die Gelegenheit bot sich dazu, als sein Schwager Hans von Dohnanyi, ihn bat, in der Deutschen Abwehr zusammen mit ihm und Hans Oster mitzuarbeiten. Bonhoeffer zögerte nicht, weil er wusste, dass hier – gedeckt vom Chef der Abwehr, Wilhelm Canaris – konkrete Widerstandsmaßnahmen gegen das NS-Regime geplant waren. Bonhoeffers zahlreiche internationale, ökumenische und kirchliche Kontakte waren eine hervorragende Voraussetzung für die neue Aufgabe. Auf katholischer Seite nutzte bereits Josef Müller seine Verbindungen zur katholischen Kirche und zum Vatikan. Nebenbei: Bonhoeffer konnte mit seinem Wechsel zur Deutschen Abwehr auch dem verhassten Wehrdienst entgehen.
Von seinem Freund und Schwager hatte er schon längst von den schrecklichen und menschenverachtenden Taten von NSDAP und Wehrmacht erfahren. Dazu hatte Hans von Dohnanyi im Geheimen mit einer umfangreichen Dokumentation begonnen; an der sollte und wollte auch Bonhoeffer weiterarbeiten.
Später, auf dem Hof des Gefängnisses Tegel wurde Bonhoeffer einmal von einem italienischen Mitgefangenen gefragt, wie er sich denn als Christ an einem Widerstand beteiligen könne, der doch zum Ziel habe, einem Menschen – in diesem Fall Adolf Hitler – nach dem Leben zu trachten. Bonhoeffer antwortete mit einem Beispiel ganz im Sinne seiner Verantwortungsethik:

„Wenn ein Wahnsinniger auf dem Kurfürstendamm sein Auto über den Gehweg steuert, so kann ich als Pastor nicht nur die Toten beerdigen und die Angehörigen trösten; ich muss hinzuspringen und den Fahrer vom Steuer reißen, wenn ich eben an dieser Stelle stehe.“

 

 

 

 
 
Leben nach den Forderungen der Bergpredigt

Offensichtlich lässt sich Bonhoeffers ethisches Denken und Handeln nicht von seinem persönlichen Glauben trennen. Trotz seiner hohen Bildung und Intellektualität scheute er sich nicht, „die zentralen Texte des Evangeliums in direktem Verständnis“ auszulegen – ohne dabei fundamentalistisch zu werden. Er versuchte nach den Forderungen der Bergpredigt zu leben, weil er in ihnen das zentrale Anliegen Jesu erkannte. Deshalb war er auch enttäuscht, als er miterleben musste, wie weit bei seiner Kirche und auch bei ehemaligen Mitstreitern der Bekennenden Kirche Sprechen und Handeln auseinanderklafften.

Auf der Basis dieses Denkens – um des Menschen und um der Schwachen willen – würde Bonhoeffer heute mit Sicherheit den Rechtsradikalismus in seiner drohenden Gefahr energisch bekämpfen. Die scheinbare Harmlosigkeit unter dem Deckmantel der demokratischen Legitimation und die mit dem Signum braver Bürgerlichkeit verniedlichte Relativierung rechtsextremer Gedanken wären für ihn Anlass, laut die Stimme in Kirche, Gesellschaft und bei internationalen Zusammenkünften zu erheben. So, wie er auf der Seite der Juden stand und Parteinahme für sie forderte („Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen!“), würde er auch heute mit seinen Möglichkeiten gegen die latenten und offensichtlich antisemitischen, rassistischen und nationalistischen Bestrebungen angehen.
Er würde es auch nicht hinnehmen wollen, dass ein Land, ein Kontinent, satt im Wohlstand lebend, mit Achselzucken zuschaut, wie das Mittelmeer für tausende von hilfesuchenden Menschen zum Grab wird, wie tausende von Kindern unter unmenschlichen Bedingungen in Flüchtlingslagern ohne Geborgenheit und Zukunft aufwachsen müssen – und das vor und auch innerhalb eines auf Abschottung bedachten Europas. Seinen mittlerweile legendären Satz würde er erweitern und den ewigen Bedenkenträgern in Politik und Gesellschaft entgegenschleudern: Wer nicht für die Heimatlosen und Entrechteten schreit, soll aufhören sich zu den christlichen Werten des Abendlandes zu bekennen.
Man würde Bonhoeffer auf der Seite derer finden, die in Bangladesch, Afrika und anderswo ausgebeutet werden, damit wir in unserem Wohlstand komfortabel und billig leben können. Aber auch im eigenen Land würde er um der nackten Lebensnotwendigkeiten von Menschen willen den kapitalistischen und neoliberalen Bestrebungen den Kampf ansagen und sich mit seinen Mitteln gegen die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich stemmen.
Die christlichen Gemeinden würde er energisch mahnen, dass „Beten und das Gerechte tun und auf Gottes Zeit zu warten“ nicht bedeutet, sich in einer frommen Ecke einzunisten; und dabei lediglich aus sicherer Entfernung engagierten Kreisen für lobenswerte Aktivitäten Beifall zu spenden. „Teilhabe am aktiven Wollen“ gründet für Bonhoeffer in der „unerträglich-gnädigen Einfachheit der Bergpredigt“ und an die würde er stets erinnern.

 
„Ich werde diese Kirche reformieren“

Als der junge Dietrich seiner Familie eröffnete, dass er Theologie studieren wolle, hielt ihm sein Bruder Karl vor, welch ein „kleinbürgerliches, langweiliges und schwächliches Gebilde die Kirche sei.“ Dezidiert entgegnete ihm Dietrich: „Dann werde ich eben diese Kirche reformieren.“

Nach seiner Promotion (1927) und Habilitation (1930) hatte Bonhoeffer mit 25 Jahren das Alter erreicht, wo er auch als Pfarrer der Preußischen Landeskirche ordiniert werden konnte. Die Entscheidung für eine Laufbahn in der Kirche als Pfarrer oder als Dozent an der Universität traf Bonhoeffer nicht; er wollte auf beiden Arbeitsfeldern und darüber hinaus seine ganze Kraft einbringen. So war er gleichzeitig Studentenpfarrer an der Technischen Universität Berlin und Privatdozent an der Universität. An der Zionskirche in Berlin-Wedding betreute er mit Hingabe eine Konfirmandenklasse. Zusätzlich knüpfte er auf nationaler und internationaler Ebene wertvolle ökumenische Kontakte.
Seine theologische Position - geprägt von seinen damaligen theologischen Lehrern Adolf Harnack, Karl Holl – später auch von Karl Barth sowie von Martin Luther – formulierte er so:

„Christus ist nicht Stifter einer neuen Religion und Religionsgemeinschaft. Er ist der Erlöser, der Grund der Kirche, nicht der Gründer. Die Religionsgemeinschaft, die Christus gründete, ist nicht unsere heutige Kirche! Tod und Auferstehung konstituiert nun die Kirche nach der Ausgießung des Geistes. Die Apostel (besonders Paulus) sind die Stifter… Christus ist der Grund und Anfänger und Vollender der Kirche zugleich. In seiner Geschichtlichkeit und Gottheit ist Christus der Anfänger und Vollender der Kirche.“

Bonhoeffer wollte es nicht tatenlos hinnehmen, dass seine Kirche die Übernahme des „Arierparagraphen“ durchführte. Vehement forderte er, dass der Zugang zu kirchlichen Ämtern bzw. dessen Verwehrung nicht unter rassistischen, sondern nur unter Glaubensgesichtspunkten beurteilt werden darf. Leider stieß er damit auch bei vielen Mitgliedern der „Bekennenden Kirche“ auf taube Ohren. Weil die Leitung seiner Kirche mittlerweile in der Hand der „Deutschen Christen“ war, entwarf er – noch unmittelbar vor seiner Verhaftung – in Abstimmung mit dem Juristen und Widerstandskämpfer Justus Perels – eine Neuordnung der Kirche für die Zeit nach der Beendigung der NS-Zeit und nach dem Ende des Kirchenkampfes. Alle durch den Nationalsozialismus ins Amt gekommenen Kirchenleitungen sollten dann „entsetzt“ werden.

 

 

 

Zionskirche Berlin heute:
Hier betreute Dietrich Bonhoeffer als Pfarrer eine Konfirmandengruppe. Er wollte nach seiner Habilitation nicht nur Universitätsdozent sondern auch Pfarrer und Seelsorger sein.

Bonhoeffer-Büste in der Kapelle
der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg

 
Kirche und der mündig gewordene Mensch

Die Begegnungen und Erfahrungen außerhalb der akademischen Welt und gerade auch im Gefängnis führten etwa ein Jahr vor dem Tod bei Bonhoeffer zu einer erdrutschartigen Zäsur in seinem theologischen Denken. Dabei ist es ihm wie „Schuppen von den Augen“ gefallen, als er „die Wirklichkeit so sah, wie er sie eigentlich schon immer gespürt hat.“ Seine von der Erfahrung und vielen Begegnungen geprägte Analyse der religiösen Situation mag auch heute noch vielen Verteidigern von Kirche und christlichem Glauben gegen den Strich gehen.

„Die Menschen können einfach so, wie sie sind, nicht mehr religiös sein….Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, was das Christentum oder auch wer Christus für uns heute eigentlich ist. Die Zeit, in der man das den Menschen durch Worte – seien es theologische oder fromme Worte – sagen könnte, ist vorüber; ebenso die Zeit der Innerlichkeit und des Gewissens, und d.h. die Zeit der Religion überhaupt. Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen…. Ich möchte von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod und Schuld, sondern im Leben und im Guten des Menschen sprechen. Die Kirche steht nicht dort, wo das menschliche Vermögen versagt, an den Grenzen, sondern mitten im Dorf.“ 

 

Viel wurde und wird immer noch darüber gerätselt, was Bonhoeffer wohl mit der „religionslosen Zeit“, mit dem „religionslosen Christentum“ und dem „nicht mehr religiösen Menschen“ gemeint haben könnte.

„Der Mensch hat gelernt“ – so Bonhoeffer – „in allen wichtigen Fragen mit sich selbst fertig zu werden ohne Zuhilfenahme der ‚Arbeitshypothese: Gott‘“ Auch für die „letzten Fragen“ wie Tod und Schuld braucht er nicht mehr Gott als Nothelfer. Es wäre falsch und sinnlos, angesichts dieser nüchternen Analyse, alte kirchliche „Besitzstände“ zu verteidigen und im kirchlich-missionarischen Eifer über viele Hintertüren Rettungs- und Erklärungsversuche zu leisten, um die Notwendigkeit von Gott zu beteuern.

Ganz anders Bonhoeffer: Die Weltlichkeit des modernen Menschen muss ernstgenommen und seine Mündigkeit und seine Unabhängigkeit von einem metaphysischen Gott anerkannt werden.

 
Kirche muss sich einmischen

Das wirft allerdings die berechtigte Frage auf, was dann Theologie und Kirche noch für eine Existenzberechtigung haben können.
Die Frage führt zum zentralen Anliegen Bonhoeffers:
Was ist Christus für mich? Was ist heute Christus für diejenigen, die sich Christen nennen? Welche Aufgabe hat Kirche?

„Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. Um einen Anfang zu machen, muss sie alles Eigentum den Notleidenden schenken. Die Pfarrer müssen ausschließlich von den freiwilligen Gaben der Gemeinden leben und evtl. einen weltlichen Beruf ausüben. Die Kirche muss an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend. Sie muss den Menschen aller Berufe sagen, was ein Leben mit Christus bedeutet, was es heißt, für andere da zu sein. … Sie wird die Bedeutung des menschlichen Vorbildes, das im Menschsein Jesu seinen Ursprung hat, nicht unterschätzen dürfen. Nicht durch Begriffe, sondern durch Vorbild bekommt ihr Wort Nachdruck und Kraft.“ 

Einerseits bleibt Bonhoeffer bei seinen Überlegungen der religiösen Insider-Sprache verhaftet. Andererseits gibt er aber in konkreten und nicht-religiösen Formulierungen Antwort mit dem Hinweis auf die Vorbildlichkeit des Menschen Jesus. Das Vorbild Jesu ist der Drehpunkt. Mit dem Beispiel Jesu kann auch der „nicht-religiöse Mensch“ der Gegenwart, auch der Mensch, der seiner Kirche und Konfession aus welchen Gründen auch immer den Rücken gekehrt hat, angesprochen werden. Für die Kirche bedeutet das, sich nicht angesichts der Mündigkeit und „Religionslosigkeit“ des modernen Menschen, in eine „resignative Nische“ zurückzuziehen. Nein, es gilt vielmehr „die Weltlichkeit des christlichen Glaubens“ neu zu entdecken. Die dienende Funktion von Kirche beschränkt sich dabei nicht nur auf das Mildern der Not von Mitmenschen. Dienen meint auch das aktive Sich-Einmischen im Sinne Jesu.

Ich bin sicher, dass Bonhoeffer heute dem jüdischen Gelehrten Ben Chorin zustimmen würde, der sagte: „Der Glaube Jesu eint Juden und Christen – der Glaube an Jesus trennt.“ Bonhoeffer würde auch im Hinblick auf den nicht-religiösen und mündigen Menschen sehr wohl sagen: „Es geht nicht darum, an Jesus zu glauben, sondern wie Jesus zu vertrauen, zu handeln, zu glauben, zu beten.
Wo Menschen dies tun, entsteht Gemeinde Jesu und Christus wird spür- und sichtbar.

 

 

 

„Glauben und Vertrauen wie Jesus“
Bonhoeffer-Skulptur von Karl Biedermann an der Westseite der Zionskirche in Berlin-Wedding. Kreuzsymbol und knieende Person in einem.

 

 

 

Gedenktafel am ehemaligen
Mädchenschulhaus Schönberg/Bayr. Wald.
Es war eigens für die Häftlinge am 4. April 1945 geräumt worden.

 
Das Problem Glaubensbekenntnis

Dass immer mehr Menschen ihre Kirche und Konfession verlassen, liegt nicht nur an den Missbrauchsfällen, an der Flucht vor der Kirchensteuer, an der empfundenen Nichtnotwendigkeit einer göttlichen Macht.
Bonhoeffer hat sehr richtig erkannt, dass es auch die frommen Begriffe sind, die dem Menschen von heute den Zugang zum Glauben verwehren können. Das Apostolische Glaubensbekenntnis wird nahezu in jedem christlichen Gottesdienst meist gedankenlos und unreflektiert gesprochen, bei entsprechenden Gelegenheiten hingegen als das unverzichtbare Fundament des christlichen Glaubens im Brustton der Überzeugung verteidigt. So, wie man sich über die Satzung zu einem Fussballverein oder zu einer politischen Partei bekennt, so sehen sich Christen etwa seit dem 5. Jahrhundert auf der Basis des Apostolischen Glaubensbekennt–nisses ihrer Kirche zugehörig – und das mit Begriffen und Worten, die dem mündig gewordenen Menschen fremd und verschlossen bleiben.
Die Fragen des „nicht-religiösen“ Menschen von heute lassen sich nicht abweisen: Wo war der „allmächtige Gott“ damals in Auschwitz und anderswo? Warum greift er gerade in solchen Situationen nicht ein? Wenn Gott angeblich in Jesus Mensch geworden ist – warum braucht es dann eine „Jungfrauengeburt“ – wider jedes biologische Gesetz? Ist Gott wirklich der Schöpfer des sich selbst zerstörenden und immer wieder neu schaffenden Chaos-Universums? Warum wollte Gott seinen Sohn leiden und sterben sehen? Was ist das „Reich des Todes“? Die Hölle? Stehen wirklich alle Toten wieder auf? Kommt der gütige und barmherzige Jesus von damals wirklich einmal als Rechenschaft fordernder Weltenrichter?
Oft sagen viele, die das Bekenntnis der Väter mit Überzeugung sprechen: Ich weiß ja, was mit diesen Aussagen gemeint ist.
Dietrich Bonhoeffer erkennt hingegen:

„Das [Glaubens-]Bekenntnis ist eine Abschreckung für die noch nicht Glaubenden im Gottesdienst. Auch auf (mit) Rücksicht auf noch nicht Glaubende muss das Wort klar und wahr sein.“ Das gilt aber auch für diejenigen, die das Bekenntnis sprechen „Das Wort selbst muss klar sein! Nicht das Gemeinte allein!“
Zwischen den Dachsparren seines Elternhauses versteckt blieb Bonhoeffers Glaubensbekenntnis. Es wurde von der Gestapo nicht entdeckt und ist uns bis heute erhalten geblieben:

 

Ich glaube,
dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten,
Gutes entstehen lassen kann und will.
Dafür braucht er Menschen,
die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.

Ich glaube,
dass Gott uns in jeder Notlage
so viel Widerstandskraft geben will,
wie wir brauchen.
Aber er gibt sie nicht im Voraus,
damit wir uns nicht auf uns selbst,
sondern allein auf ihn verlassen.

In solchem Glauben müsste alle Angst
vor der Zukunft überwunden sein.
Ich glaube,
dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind,
und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden,
als mit unseren vermeintlichen Guttaten.

Ich glaube,
dass Gott kein zeitloses Fatum ist,
sondern dass er auf aufrichtige Gebete
und verantwortliche Taten wartet und antwortet.

 „Gefangener Bonhoeffer, fertigmachen und mitkommen“ – „Dies ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens.“ Die letzten bekannten Worte von Dietrich Bonhoeffer vor seinem endgültigen Abtransport nach Flossenbürg. In diesem hellen Schönberger Schulsaal (1. Stock) hielt Bonhoeffer auf Wunsch der Mitgefangenen seinen letzten Gottesdienst über den Text Jesaja 53,5: Durch seine Wunden sind wir geheilt.)

 
 
Wie wird Friede?

Im August 1934 formulierte Bonhoeffer anlässlich der Tagung des Ökumenischen Rates und der Ökumenischen Jugendversammlung unter dem Thema „Die Kirchen und der Friede“ seine Gedanken. Dabei rief er zum Frieden unter den Völkern aus christlicher Verantwortung auf.
Wie wird Friede? 
„Durch ein System von politischen Verträgen? Durch Investierung internationalen Kapitals in den verschiedenen Ländern? D.h. durch die Großbanken, durch das Geld? Oder gar durch eine allseitige friedliche Aufrüstung zum Zweck der Sicherstellung des Friedens?
Nein, durch dieses alles aus dem einen Grunde nicht, weil hier überall Friede und Sicherheit verwechselt wird. Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg zur Sicherheit.
Denn Friede muss gewagt werden, ist das eine große Wagnis, und lässt sich nie und nimmer sichern. Friede ist das Gegenteil von Sicherung. Sicherheiten fordern heißt Misstrauen haben, und dieses Misstrauen gebiert wiederum Krieg.
Die Stunde eilt – die Welt starrt in Waffen und furchtbar schaut das Misstrauen aus allen Augen, die Kriegsfanfare kann morgen geblasen werden – worauf warten wir noch?
Wollen wir selbst mitschuldig werden wie nie zuvor?“
In Anspielung auf Mahatma Gandhis Salzmarsch im Jahre 1930 warf er die Frage auf, ob wir uns von den „Heiden im Osten“ beschämen lassen müssen, „wenn ein Volk - statt mit der Waffe in der Hand - betend und wehrlos“ dem Feind entgegentritt.
Bonhoeffer hat bis heute für diese dezidiert formulierten Worte nur wenig Zustimmung aber viel Kritik erfahren. Und doch muss seine Rede von damals auch heute noch angesichts der vorhandenen und drohenden Kriege, angesichts des Rüstungswahns, der ins Unermessliche steigenden Rüstungsausgaben und auch angesichts der deutschen Waffenlieferungen an kriegerische Parteien nachdenklich machen und sollte Konsequenzen haben.

Gedenkstein Fanö:
„Frieden muss gewagt werden und lässt sich nie und nimmer sichern. Sicherheiten fordern heißt Misstrauen haben, und dieses Misstrauen gebiert wiederum Krieg.“
Bonhoeffers Friedensrede auf Fanö 1934

Ökumenische Vielfalt –
Hoffnung auf Einheit im Glauben

Carl Friedrich von Weizsäcker beschreibt vortrefflich, dass Dietrich Bonhoeffer die Ökumene auf keinen Fall auf das Verhältnis katholisch – protestantisch beschränkt wissen wollte. Bonhoeffer verstand Ökumene in ihrem ursprünglichen Wortsinn. Er meinte die „ganze, von Menschen bewohnte Erde“. Entsprechend waren auch seine internationalen Kontakte – nicht zuletzt auch sein (unerfüllter) Wunsch, Mahatma Gandhi in Indien begegnen zu wollen.
Gerade mit Bezug auf die unterschiedlichen Auffassungen von der Abendmahlslehre konstatierte Bonhoeffer einerseits eine „konfessionelle Empfindlichkeit“, die nicht in Gefahr geraten darf, „Sachliches nicht mehr sachlich zu nehmen.“ Trotz größerer Unterschiede bei der Abendmahlslehre zwischen Lutheranern und Reformierten als zwischen evangelisch und katholisch, kam es dort doch zu einer gegenseitigen Anerkennung des Abendmahls. Für Bonhoeffer fanden sich dabei die Gründe nicht im Theologischen, sondern in den „glaubenden Entscheidungen“ – was er nachträglich als eine „Führung Gottes“ bezeichnete. Er drückte seine Hoffnung aus, dass das auch bei einer Einigung im Abendmahlsverständnis mit den Katholiken möglich sein müsste – auch wenn für ihn dafür „morgen oder übermorgen“ noch nichts zu sehen sei. Seine Augen wollte er jedoch „in dieser Richtung offenhalten.“

Gott ist bei uns – nicht mit uns!

Dass sein Weihnachts- und Neujahrswunsch an seine Braut und seine Eltern „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ alle konfessionellen Grenzen überwunden hat, ist dafür ein Hoffnungszeichen. Allerdings würde er sich energisch dagegen wenden, wenn in der Textfassung der Liedmelodie von Siegfried Fietz (1970) immer wieder und gern gesungen wird: „…Gott ist mit uns am Abend und am Morgen…“ Bonhoeffer wusste, dass auf den Koppelschlössern der deutschen Soldaten, die am 22. Juni 1941 beim Unternehmen Barbarossa die Sowjetunion mit dem Ziel der Vernichtung des Bolschewismus und Millionen von Menschen die Sowjetunion überfielen, die Worte standen: „Gott mit uns!“
Wie tröstlich, wenn Bonhoeffer in seinem Gedicht und Gebet einem Gott glaubt und ihm vertraut, der nicht zu kämpferischen Leistungen beflügeln, sondern täglich bei uns sein will.
Das galt für ihn damals bis in seine Todesstunde und gilt für uns auch noch heute.

 

 

Literatur:

Bonhoeffer, Dietrich. Berlin 1932-1933.
Gütersloh: Christian Kaiser Dietrich Bonhoeffer Werke Bd 12, 1999.
- Konspiration und Haft 1940 - 1945.
Gütersloh: Christian Kaiser - Dietrich Bonhoeffer Werke Bd 16, 1996 .
- Ökumene Universität Pfarramt 1931-1932.
Gütersloh: Christian Kaiser Dietrich Bonhoeffer Werke Bd 11, 1994 -.
- Widerstand und Ergebung.
Gütersloh: Christian Kaiser Verlag - Dietrich Bonhoeffer Werke Bd 8,

Henze, Arnd. Kann Kirche Demokratie? - Wir Protestanten im Stresstest. Freiburg: Herder, 2019.

Huber, Wolfgang. Dietrich Bonhoeffer - Auf dem Weg zur Freiheit Ein Portrait. München: C.H. Beck, 2019.

Jähnichen, Traugott; Günter Brakelmann. - Dietrich Bonhoeffer – Stationen und Motive auf dem Weg in den politischen Widerstand. Münster: LIT, 2005.

Kratzer, Siegfried. „»Von guten Mächten wunderbar geborgen« - Dietrich Bonhoeffer - Sein Weg, sein kurzes Leben.“ Begegnung und Gespräch -
»begegnung-online.de«, 2015.

Müller, Günter: Dietrich Bonhoeffer und seine Richter Begegnung und Gespräch - »begegnung-online.de«, 2001.

Schorlemmer Friedrich: „Friedrich Schorlemmer liest Texte von Dietrich Bonhoeffer – Christian Lambour spielt Clavichord. Accademia, CUBE Medien Gmbh&Co München 2015.

Weizsäcker, Carl Friedrich von. „Gedanken eines Nichttheologen zur theologischen Entwicklung Dietrich Bonhoeffers.“ In: Der Garten des Menschlichen - Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, von ers. München: Carl Hanser, 1977.

 

Bildnachweise:
Titelbild: Martin Dubberke
S. 2: Grafik: Christoph Ranzinger
Alle anderen Fotos: Siegfried Kratzer