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Krise der Kirche oder Krise des Glaubens  
Ausgabe: 185/2019

Krise der Kirche oder
Krise des Glaubens

Rainer Schießler

 

 

Bis weit in unsere Zeit hinein hat sich die Kirche als „allein seligmachend“ gebärdet. Mittlerweile muss sie sich damit abfinden, dass es eine Fülle von religiösen Erfahrungen wie Bewegungen gibt. Schlimmer noch, es gibt Bischöfe, die sehen sich und die Kirche in Deutschland schon als verfolgt an. Aber gerade der Mißbrauchsskandal macht es doch deutlicher, dass diese Kirche keine Feinde mehr von außen braucht. Das verbrecherische System der Vertuschung und Verheimlichung, die Voranstellung des Täterschutzes vor der Opferfürsorge, ein nicht mehr annehmbares System von Macht-, Hierarchie- und Sexualvorstellungen sowie ein absolut falscher Klerikalismus und die systemische Diskriminierung der Frauen haben die Kirche in ihre wohl größte Krise seit dem Mittelalter manövriert.

Die Menschen glauben ihr nicht mehr, sie vertrauen ihr nicht mehr, sie vermissen klare Umstrukturierungen, damit Gleichheit und Gerechtigkeit allen Menschen – gleich welchen Geschlechts, sexueller Orientierung und spiritueller Begabung – zuteil werden können. Begriffe wie Sonntagspflicht und Pflichtzölibat, die rein aus der jeweiligen Verpflichtung, etwas tun zu müssen, gesehen werden, werden heute rundum abgelehnt – zu Recht! Pflicht kann nur verstanden werden als ein freiwilliger Akt der Liebe. Einen Gottesdienst besuchen die Gläubigen nicht mehr, weil ihnen Fernbleiben irgendeine irdische oder himmlische Bestrafung einbringen würde. Die Entscheidung zu einem ehelosen Leben des Priesters muss entkoppelt werden von seinem Amt und seiner Sendung. Entgegen der Befürchtung innerhalb konservativer Kreise, die Institutionalisierung des verheirateten Priesters würde die Lebensform der Ehelosigkeit total verdrängen, würde man damit vielmehr eine neue Renaissance dieser „alternativen“ Lebensweise des Zölibats bewirken. Der verheiratete Priester ist keine lutherische Verirrung, sondern eine längst fällige und sehr kluge Option für die ganze Kirche.

Der sonntägliche Gottesdienst ist keine Dienstleistung für Gott und somit nur für sich selbst. Im Gegenteil: Er lebt von seiner Zweckfreiheit, dass ich als Gläubiger gerade hier nichts leisten, erwirtschaften oder vollbringen muss. Mein Glaube kennt keine Bewertungsskala! Ich darf einfach nur hier sein, die Gemeinschaft mit einer nicht ständig fordernden Glaubensgruppe teilen und mich ganz persönlich von Gott selbst eingeladen wissen.
»Sein, nicht Liefern«, drückte es einmal ein Jugendlicher in einem Gespräch aus. Darin unterscheiden wir uns wesentlich von allen Selbsterlösungsstrategien in einer völlig überzogenen Leistungsgesellschaft. „Was bringt´s mir?“ fragen – nicht nur junge – Menschen im Blick auf unsere Gottesdienste. Das ist kein billiger Ausdruck von Protest oder Resignation. Hier offenbaren Menschen, dass sie auf der Suche sind, jedoch bei uns nicht fündig werden.
Religiöse Erfahrungen, die daher heute sehr häufig außerhalb
unserer Kirche gemacht werden, sollte man nicht einfach nur als Verweltlichung oder Modernismus abtun, auch wenn sich deswegen viele von der Kirche abwenden. Sie finden hier in der Kirche schlichtweg zu wenig vom Wort, vom Werk, vom Geist Jesu. An solchen Erfahrungen am Rande der Kirche, besonders wenn man keine Vorurteile hat, lässt sich durchaus anknüpfen und aufbauen. Dann vor allem, wenn aus der Kirchenkrise nicht gleich und leichtfertig eine Glaubenskrise konstruiert wird. Glaube, der mich trägt in meinem Leben und zur Lebenshaltung werden kann, braucht Vorbilder, Spuren, in denen man sich bewegen kann. »Glaube kommt vom Hören« heißt der theologische Grundsatz. Ich möchte ergänzen: vom Lieben und vom Leben, vom Nachahmen!

Auch wenn die Kirche immer noch an alten Gottesbildern festhängen mag, die moderne Welt weiß, dass hinter der Entwicklung von Welt und Mensch nicht einfach ein Gott steht, der alles reglementiert. Gott ist anderswo zu suchen, sagten die Mystiker schon vor Zeiten: in der Tiefe, also in sich selbst. Gott sei „nicht die Antwort auf ein menschliches Bedürfnis. Gott so verstehen, hieße ihn verkleinern und damit verneinen“, so der Jesuitenpater George Coyne, der daraufhin seine Aufgabe als Hofastronom des Vatikans quittieren musste.

Deshalb dürfen auch kirchliche Handlungen wie Sakramente nicht zu Disziplinierungsmaßnahmen umfunktioniert werden oder gar so bleiben, sondern sie müssen echte Lebenshilfe sein. Wer den Bruch in seiner Ehe erfahren hat, ist nicht qua se ein Verbrecher, sondern steht vor der immensen Aufgabe – wie nach einer schweren Verletzung – diesen Bruch aushalten zu müssen; umso mehr, wenn er seine eigentliche Bestimmung und eine ihn tragende Liebe in einer neuen Beziehung gefunden hat. Diese Menschen gilt es nicht zuallererst als Verbrecher oder Versager auszumachen, sondern als der Mitfürsorge der Gemeinde anempfohlene Menschen anzusehen, die gerade jetzt die Einbindung und nicht den Ausschluss aus der Gemeinschaft brauchen. Also konkret: Zulassung und nicht Abweisung vom gemeinsamen Tisch des Herrn.
Der große Theologe Karl Rahner betonte einmal, dass Gott mit jedem Menschen seine Geschichte hat. Und, so möchte ich hinzufügen: Jeder Mensch hat auch seine Geschichte mit Gott. Es braucht jedoch viel Freiheit und Mut, sich das persönlich und als Kirche, als Glaubensgemeinschaft zuzugestehen. Nicht Gleichschaltung, nicht Gleichmacherei ist das Kennzeichen der Kirche, sondern die Einheit bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Mitglieder.

Der tschechische Professor Tomas Halik, er wurde in den kommunistischen Zeiten heimlich zum Priester geweiht, schreibt: „Viele, die mit Gott kämpfen, sind ihm heute näher als die Gleichgültigen.“ Menschen spüren es heute deutlicher als früher, als alles seine vorgeschriebenen religiösen Bahnen ging, dass sie ohne Gottesbeziehung nicht ganz sind. Gott und die Menschen miteinander auf einzigartige Weise zu verbinden, das hat Jesus in unsere Welt gebracht. In dieser Nähe und Intensität lässt sich das außerhalb des Christentums kaum so finden.
Zugegeben: Früher war alles viel einfacher, als man noch sagen konnte: Das hat Gott gesagt. Das ist der Wille Gottes. Das hat Gott so und nicht anders gemacht. Heute aber muss der Glaube die Unsicherheit und die Verborgenheit Gottes ertragen. Noch einmal Tomas Halik: „Glaube und Zweifel sind Geschwister. Sie brauchen einander. Wer sich seines Glaubens allzu sicher ist, kann leicht zum Fanatiker werden. Davon haben die Religionen derzeit mehr als genug.“

Es gilt, Gott für unsere Zeit zu entdecken. Meister Eckhart hat schon im 14. Jahrhundert formuliert, dass Gott nicht in dieser Welt zu finden ist – und wäre wegen dieser Aussage beinahe auf dem Scheiterhaufen gelandet. Wir müssen uns von allen Äußerlichkeiten befreien. Deswegen ist es auch nicht mehr so leicht, von Gott zu reden. Früher ist uns dieses Wort zu einfach und zu schnell über die Lippen gekommen.
Für mich und meinen Glauben gilt ein wichtiger Satz: In der Menschlichkeit Jesu begegne ich Gott. In den Leiden wie in den Freuden der Menschen; selbst noch in ihrem Versagen. Gott lässt sich im Gesicht der Mitmenschen erkennen, und ich hoffe, dass auch auf meinem Gesicht das Göttliche erkannt werden kann.
In der Gerichtsrede nach Mt 20,40 lässt Jesus Gott in der Gestalt des Königs sagen: »Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« . Aber auch: Was ihr ihm verweigert, habt ihr mir verweigert. Das Menschliche so wie das Allzumenschliche trifft Gott – so meint es Jesus.
Die Kirche hat in der Vergangenheit den unbekannten Gott vorschnell durch Jesus Christus, als den Sohn Gottes, eingetauscht. Vor Jahren schrieb schon ein Kommentator der WELT: „In der Verkündigung Gottes ist die Kirche wenig überzeugend. In den Ritualen des Glaubens spürt man nicht selten eine gewisse Hohlheit, ein Zittern, ein Fremdeln. … Die Kirche hat eine theologische Schwäche.“

Ja, die Kirche vertritt ein Gottesbild und bietet Inhalte des Glaubens an wie vor 200, gar wie vor 500 Jahren. Wie will sie damit eine junge Generation erreichen? Der evangelische Theologe, Autor und Publizist Heinz Zahrnt hat die wunderschöne Aussage gemacht: „Ich glaube an den Jesus seinen Gott!“ Das ist der Weg des Glaubens in einer Kirche von heute und morgen. Mit diesem Jesus von Nazareth in einer Glaubensgemeinschaft zu stehen, die sich in allen Belangen und Lebenslagen einem Gott anvertraut, der sich als Vater seinen Kindern zu erkennen gibt, ist die wohl einzige vernünftige Art und Weise von Glauben zu reden und diesen den Menschen nahezubringen.

 

 

Es gibt eine Türe, dessen bin ich mir sicher, die zu Gott führt. Er wartet hinter dieser Türe. Auf der Türe steht das Wort Liebe nach der kurzen Formel, die uns Jesus gegeben hat: „Gott lieben, den Nächsten lieben, und sich selbst.“ Es ist dies ein heiliger Dreiklang, auf den wir hören sollen und den wir anschlagen können, wo immer wir sind, um entschlossen durch diese Türe zu gehen. Allem Krisengerede zum Trotz.

 

Zum Autor:
Rainer Maria Schießler ist kath. Pfarrer an St. Maximilian und in der Heilig-Geist-Gemeinde (Viktualienmarkt) München.
Neben vielen anderen unkonventionellen Aktionen wurde er auch als Oktoberfest-Pfarrer bekannt. Er arbeitete dort sechs Jahre lange als Bedienung und gab das gespendete Geld für wohltätige Zwecke aus.

Veröffentlichungen:
– Himmel, Herrgott, Sakrament. Auftreten statt austreten. Kösel 2016
– Jessas, Maria und Josef. Gott zwingt nicht, er begeistert. Kösel 2018

Begegnung und Gespräch im Internet: www.begegnung-online.de

Fotos: Siegfried Kratzer (Abb. 1; 2; 4), Christoph Ranzinger (Abb. 3)

Verantwortlich:
Dr. Matthias Pfeufer (im Auftrag des Kath. Schulkommissariats Bayern), Poxdorf 24, 96167 Königsfeld
Siegfried Kratzer, (im Auftrag des Evang.-Luth. Landeskirchenamtes Bayern) Pfälzer Straße 7a, 92224 Amberg
Gestaltung: Christoph Ranzinger, Pauckerweg 5, 81245 München.